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Nataly Savina:
Love Alice
Weinheim: Beltz & Gelberg 2013
156 Seiten
€ 12,95
E-Book: € 11,99
Jugendbuch ab 14 Jahren

Savina, Nataly: Love Alice

Das Ende des Wunderlandes

von Lina Weber (2013)


Die zurückhaltende Alice ist vierzehn und hat das Pech, ein Künstlerkind zu sein. Ihre Mutter ist eine bekannte Opernsängerin und erwartet, dass ihre Tochter sich für Kunst interessiert, trotz der mütterlichen Lebenslenkung ihren eigenen Kopf hat und beim Sprechen an den richtigen Stellen Pausen einhält. Insgesamt nimmt das Mädchen im Leben der Mutter nur eine Nebenrolle ein. In ihrer Phantasie aber schafft sich Alice Welten, in denen sie die Hauptrolle spielt. Dort erweckt sie steinerne Eier zum Leben und trifft sich mit der Königin zum Tee.

„Keiner stirbt so schön wie meine Mutter“, erklärt Alice ihrer neuen Klasse, warum sie mitten im Jahr neu dazustößt. Immer dem Ruf der nächsten Opernrolle folgend, bleiben Mutter und Tochter nie länger als eine Spielzeit an einem Ort - zu kurz, um irgendwo richtig anzukommen. Und so bleibt Alice die meiste Zeit allein.

In der neuen Klasse trifft Alice auf Cherry. Die Gleichaltrige färbt sich ihre Haare feuerrot und kümmert sich nicht darum, was andere Leute über sie denken. Sie lernt Karate, und nichts und niemand scheint ihr etwas anhaben zu können. Aber auch Cherry ist einsam. Sie hat keine richtigen Freunde und leidet unter dem Verlust ihrer Mutter, die vor einigen Jahren gestorben ist.

Allmählich kommen sich die Mädchen näher. Zwar kehrt Alice nicht immer unbeschadet von den Erkundungsfeldzügen mit der impulsiven Cherry zurück, doch das macht ihr nichts aus. Mit Cherry kann sie lachen, verrückte Dinge tun und es endlich wirklich fühlen - das Leben. Als sie einmal mit einem langen Schnitt auf der Stirn nach Hause kommt, ist ihre Mutter entsetzt. Alice dagegen ist sich sicher: „Keinesfalls habe ich vor, ihr etwas zu verraten. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so was Tolles wie Cherry hatte. Und Schätze, das weiß jeder, sollte man verstecken“. Mit der Zeit entwickelt sich eine intensive Nähe zwischen den beiden Mädchen, die sich lange nach echter Zuneigung gesehnt haben.

So scheint für Alice zum ersten Mal alles gut zu laufen.

Doch dann geschieht das Unglück, nach dem für Alice nichts mehr so ist wie zuvor. Es ist der Tag, an dem Cherry ihre Karateprüfung ablegt. Cherry, die auf Alice und ihren Vater als Zuschauer bei ihrer Prüfung gehofft hat, wird enttäuscht: Ihr Vater ist mit ein paar Flaschen Schnaps auf dem Sofa eingeschlafen, und Alice muss ihre Mutter bei einem wichtigen Auftritt in der Oper unterstützen. Nach der bestandenen Prüfung nimmt Cherry, wie schon so oft, eine Abkürzung durch den Wald. Sie wird von einem Unbekannten überfallen und ermordet.

Nataly Savina erhielt für ihren zweiten Jugendroman den Peter-Härtling-Preis. Sie erzählt in „Love Alice“ die Geschichte eines ganz auf sich gestellten Mädchens, das endlich eine Freundin findet und diese auf schreckliche Weise wieder verliert.

Die Ich-Erzählerin Alice scheint präsentisch zu erzählen, was dem Leser einen sehr unmittelbaren Zugang zu dem Erzählten ermöglicht. Tatsächlich wird jedoch in einer Rückblende erzählt, in der Alice sich die gemeinsame Zeit mit ihrer besten Freundin – offenbar kurz nach deren Tod – noch einmal vergegenwärtigt und sich verschiedene Ereignisse wieder ins Gedächtnis ruft; augenscheinlich möchte das Mädchen das mit der Freundin Erlebte für immer in Erinnerung behalten.

Der eigentlichen Geschichte vorangestellt ist eine Art Prolog, in dem Savina die Protagonistin über das Wesen des Unglücks sinnieren und einen quasi lebensgeschichtlichen Rahmen setzen lässt. Gleichzeitig wird dadurch ein Einstieg geschaffen, der den Leser alarmiert. Er weiß: Egal, was die Handlung bringen wird, sie wird in einer Katastrophe enden - auch wenn noch nicht abzuschätzen ist, welcher Art.

Auffällig sind die Teile der Erzählung, in denen Alice Handlungen schildert, bei denen sie selbst gar nicht zugegen war. Einer allwissenden Erzählerin gleich, beschreibt sie sogar Gefühle und Gedanken anderer Figuren. So erzählt sie, wie Cherry am Tag ihrer Ermordung zur Karateschule geht, an der sie eine wichtige Prüfung ablegt, wie sie vor ihrer Prüfung Aufwärmübungen macht und wie sie nach der Prüfung allein nach Hause aufbricht. Diese Beschreibungen erfolgen in einer immer schneller werdenden Parallelmontage mit Alices Schilderungen des Auftrittes ihrer Mutter, bei dem sie selbst dabei ist und bei dem zum ersten Mal wirkliche Nähe zwischen Mutter und Tochter aufkommt. Die Erzählung läuft auf zwei parallele, höchst gegensätzliche Höhepunkte zu: einen tosenden Applaus in der Oper und den gewaltsamen Tod Cherrys auf dem Nachhauseweg. Die gewählte Erzählkonstruktion dient offenkundig ausschließlich der Spannungssteigerung, kann doch der Leser die an dieser Stelle auftretende Stimme eines zweiten, auktorialen Erzählers nicht so recht einordnen.

In einem Interview bemerkte die Autorin, das Buch sei autobiographisch inspiriert. Sie habe damit „eine Art Denkmal oder auch so etwas wie ein[en] Abschiedsbrief“ für eine Freundin schaffen wollen, der ein ähnliches Schicksal widerfahren sei wie Cherry in der Geschichte. Es geht in Savinas Roman um die Freundschaft und vor allem darum, wie eine tiefe freundschaftliche Beziehung beim Erwachsenwerden hilft. Authentisch und mit viel Sinn für die Gefühle der beiden Mädchen beschreibt Savina deren intensive Beziehung, die sich auch in alterstypischer körperlicher Zuneigung ausdrückt. Alices Fassungslosigkeit über den Mord an ihrer Freundin, ihre Wut und Trauer über den Verlust, die Gedanken an Rache und ihre Selbstvorwürfe, an jenem Abend nicht bei Cherry gewesen zu sein, können den Leser tief berühren.

Die Charakterisierung der Figuren, vor allem die von Alices Mutter, hat teilweise stereotype Züge. Hannah Blumberg, die Mutter, zum Beispiel entspricht voll und ganz dem Bild einer kühlen Diva, der ihre Karriere weitaus wichtiger ist als das Wohlbefinden ihres Kindes. Auch die sich ‚zufällig‘ genau ergänzende Personenkonstellation wirkt gewollt: Hier Alice, die vaterlos und nur mit ihrer egoistischen Mutter aufwächst, dort Cherry, deren Mutter gestorben ist und deren problembeladener Vater sich zwar liebevoll, aber etwas nachlässig um sie kümmert. Dass die völlig heterogenen Elternteile gleichwohl mehr als einen Gesprächsfaden zueinander aufnehmen können, scheint dann doch des Guten etwas viel.

Die eigentliche Handlung wird häufig durch kräftige Symbole unterstützt. Dabei gelingt es der Autorin, die Emotionen der Figuren spürbar werden zu lassen. Etwa, als Alice im Flugzeug aus Wut über die selbstgerechte Haltung ihrer Mutter deren Becher umwirft: „Mama dreht sich weg und kuschelt sich in ihren Paschmina. Das Gespräch ist beendet. Auf meinem Klapptisch steht ihr Pappbecher. Mit einer ruckartigen Bewegung werfe ich ihn um. Aber es bringt nichts. Er ist leer“. Auch werden immer wieder Bezüge zu anderen Werken wie „Alice im Wunderland“ und verschiedenen Märchen der Gebrüder Grimm hergestellt. Nur in seltenen Fällen sind diese handlungsrelevant oder können eine weitergehende Verstehensebene eröffnen. Mitunter tragen Anspielungen jedoch zu einem Gefühl der Vorahnung und der oben bereits angesprochenen ‚Alarmiertheit’ bei, etwa der ‚blutige Fasan’, den Cherry in der von ihr und Alice erbauten Hütte im Wald findet. Der von einem Fuchs gerissene Fasan liegt an der gleichen Stelle, an der Cherry später überfallen wird. Hinweise dieser Art treten gehäuft auf, und durch solche Warnzeichen kommt Cherrys Ermordung zum Schluss nicht besonders überraschend.

Paul Celans Gedicht „Ich kann dich noch sehen“ bildet gewissermaßen eine Klammer für die Geschichte. In ihm findet Alice zum Schluss eine Möglichkeit der Bewältigung ihrer Trauer. In der letzten Szene sagt sie das Gedicht für ihre Freundin auf, um sich von ihr ein letztes Mal zu verabschieden, bevor sie mit ihrer Mutter in eine andere Stadt zieht. Am Anfang der Geschichte noch hatte sie die Verse Celans, die sie auf Geheiß der Mutter zu lesen hatte, nicht verstanden, doch durch die emotionalen Erfahrungen von Liebe und Schmerz ist ihr dies nun möglich.

„Love Alice“ ist eine tieftraurige und bewegende Geschichte. Trotz des vorhersehbaren Ausgangs schafft Nataly Savina einen sehr lesenswerten Entwicklungsroman, in dem sie zeigt, wie wichtig die Freundschaft zu Gleichaltrigen im Prozess des Heranwachsens und insbesondere bei der Ablösung von den Eltern ist.

 

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