Sendak, Maurice: Kennys Fenster
Willst du wirklich immer, was du dir wünschst?
von David Winands (2013)
Ein Fenster ist eine gläserne Öffnung in der Wand eines Gebäudes. Es dient gewöhnlich der Luft- und Lichtzufuhr und der Aussicht. Kennys Fenster kann aber noch mehr: Es bietet die Möglichkeit, von dem Tag in die Nacht zu schauen, von dem Alltag in den Traum, die Möglichkeit, von Fragen zu Antworten zu gelangen.
Kenny hat geträumt. Er ist in einem Garten gewesen, der auf merkwürdige Weise halb in den Morgen und halb in die Nacht getaucht schien. Dort hat er einen vierfüßigen Hahn getroffen, der ihm sieben Fragen gestellt hat. Beantwortet der Junge diese richtig, darf er in dem geheimnisvollen Garten wohnen. Doch dann wacht Kenny auf.
Traum und Wirklichkeit gehen ineinander über: In seiner Schlafanzugjacke findet Kenny ein Stück Papier mit den Fragen des Hahns. So fängt er an, nach Antworten zu suchen. Doch dabei muss er einige Hürden überwinden. Bucky, sein Teddy mit nur einem Glasauge, fühlt sich vernachlässigt, die zwei Zinnsoldaten auf dem Fensterbrett wittern Betrug, und sein Hund Baby tut so, als sei er ein Elefant und nicht ein kleiner zotteliger Vierbeiner. Für Kenny gibt es viel zu tun auf dem Weg zu den sieben Antworten und zu dem Eintritt in den erträumten Garten. Dabei werden mit jeder Frage neue Figuren eingeführt, die später gemeinsam in dem Kinderzimmer des Jungen eine Party feiern.
„Kennys Fenster“ ist das erste illustrierte Kinderbuch des 2012 verstorbenen amerikanischen Autors Maurice Sendak. Das bereits 1956 in den USA erschienene Werk des Schöpfers so bekannter Bilderbücher wie „Wo die wilden Kerle wohnen“ ist nun von Brigitte Jakobeit zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden. Anders als bei seinen hierzulande bereits bekannten Büchern verzichtet Sendak bei „Kennys Fenster“ auf die für ihn später so typischen knalligen Farben. Die Bilder – mitunter freigestellte, ganzseitige Illustrationen, dann wieder kleinere Detailzeichnungen, mitunter vignettenartige Einzelbilder – sind in hellen Pastelltönen gehalten; hier und da meint man, in den Kombinationen von Aquarell und Federzeichnung Zitate von Caldecott und Chagall aufblitzen zu sehen. Verschiedene Mal- und Zeichentechniken – Sendak arbeitet mit Parallel-, stärker noch mit Kreuzschraffuren, um plastische Wirkungen zu erzielen – zeigen, dass der Autor und Künstler bei seinem ersten illustrierten Kinderbuch noch nach dem ihm adäquaten Ausdruck sucht. Seine Bilder haben noch stark illustrativen Charakter, sie heben Momente der Geschichte hervor und beleuchten Teilaspekte. Und doch zeigt sich hier bereits ganz unverkennbar der später gefeierte Bilderbuchkünstler.
Schon auf dem Buchcover reitet der Junge Kenny von der Nacht in den Tag. Im Folgenden wechseln sich Text und Bild von Seite zu Seite zumeist ab. Der Text ist in größeren Lettern gehalten, die Bilder sind in einfachen schwarz-ockerfarbenen Tönen skizziert. Einige Zeichnungen sind dunkel wie die Nacht, andere leuchtend wie der Tag. Einige Zeichnungen sind ausgemalt, andere lediglich schraffiert.
Sieben Fragen markieren – jeweils eingerahmt in einen gemalten Kasten – den Beginn von sieben kapitelartigen Szenen. Sieben Kapitel, in denen Kenny die Welt aus seinem Kinderzimmer heraus mit einer ganz eigenen Logik erfasst und Kindern die Gedanken vorwegnimmt. Träume und Wirklichkeit greifen ineinander über: Wenn der Hahn auf die Schultern des Jungen hopst und ihm erzählt, dass der Garten ganz weit am Rand des Ozeans sei, schläft Kenny ein und träumt von einem Ritt bis hin zu diesem Meer. Zu dieser Zeit ist die Nacht nicht dunkel, sondern mondhell. Tag und Nacht vereinen sich.
Doch bis zu diesem Ritt auf der letzten Textseite des Buches ist es ein langer Weg. So muss auf die Frage „Was ist eine einundeinzige Ziege?“ ebenso eine Antwort gefunden werden wie auf die Frage „Willst du wirklich immer, was du dir wünschst?“ Kenny beantwortet tiefsinnige, mitunter fast schon philosophische Fragen mit dem einfachen Gespür eines Kindes, nämlich mit dem Erleben alltäglicher Beschäftigungen. Dazwischen finden sich moralische, teilweise auch absurde sowie Rätselfragen. Manchmal bleiben Fragen offen. Wie bei Kindern üblich entstehen sie beim Betrachten der Dinge, beim Erfahren der Umgebung. Warum sieht der Schnee denn oben im Himmel dunkel und unten auf der Erde weiß aus?
Maurice Sendak schreibt die Gedanken des Kindes Kenny nieder und findet Antworten, die für Erwachsene verblüffend sind. Erwachsene könnten als Protagonisten diese Erlebnisse nicht wiedergeben. Denn sie würden nur sagen, es sei ein Traum gewesen. Sie hören nachts nie irgendwas, wie Kenny feststellt. Kinder aber können nachts sogar ein Pferd auf dem Dach hören und Pferde durch die Nacht fliegen lassen. Und das Beste ist: Die Pferde können jederzeit wiederkommen, wann immer die Kinder dies möchten. Für Kinder ist der Übergang vom Traum in die Realität fließend. Und doch ist „Kennys Fenster“ kein reines Kinderbuch. Sendak zeigt auch Erwachsenen auf, wie sie durch kindliches Träumen ihre Welt erweitern können.
Dem Autor gelingt es, die Welt von Kindern zu erfassen. Kenny redet mit seinem Teddybären und seinem Haustier und fühlt sich von ihnen verstanden. Auch in seine Träume erhalten wir einen Einblick, und zwar bereits auf dem Buchcover. Der Blick auf das eingerahmte Bild von Kennys Ritt in den Tag erscheint wie der Blick durch ein Fenster in das Buch und gleichsam in den Traum des Protagonisten. Es ist der Blick durch Kennys Fenster.
Ob Kenny es jedoch schafft, letzten Endes alle Fragen zu beantworten und in den Garten zu ziehen? Was er sich wünscht, will er gar nicht immer. Das weiß Kenny bereits. Ist er also wirklich auf der Suche nach dem Garten? Sucht er sogar noch nach viel mehr oder bereits nach etwas ganz anderem? „Du hast dir etwas gewünscht“, sagt der vierfüßige Hahn. „Und ein Wunsch ist schon der halbe Weg zum Ziel.“ Da schläft Kenny auf der Fensterbank ein und träumt. Am Ozean ist er schneller als gedacht.