Bos, Tamara: Papa hörst Du mich?
Ich bin es, Polle
von Konstantin Habich (2013)
„Papa liegt im Zimmer“. – Der siebenjährige Polle sitzt neben dem Krankenhausbett, in dem sein Vater liegt. Das Bett aber steht nicht im Spital, sondern im Wohnzimmer der Familie, denn der Vater war sehr lange Zeit lang krank und durfte deswegen irgendwann nach Hause. Nun ist er nicht mehr krank, gesund ist er aber auch nicht: „Jetzt schläfst du nicht, aber es sieht genauso aus.“
Polles Vater war sehr still, als er so krank war, denn er hat sehr viel schlafen müssen. Vor der Krankheit aber war er ein fröhlicher Mensch. Er ging auch mal mit Polle und dessen älterem Bruder Dajo auf den Jahrmarkt. Dort wurde viel gelacht, und Preise haben sie auch gewonnen.
Nun aber schläft der Vater – für immer. Und Polle sitzt neben seinem Vater und versucht zu verstehen, was es bedeutet, dass der Vater gestorben ist.
Der Junge führt einen inneren Monolog und stellt sich dabei vor, dass er zu seinem Vater spricht. In seinen Gedanken erzählt er seinem Vater, was so alles geschehen ist und geschieht, seitdem Papa erkrankt und gestorben ist. Er erinnert sich an gemeinsame Zeiten mit seinem Vater, sowohl schöne als auch schlechte.
„Unterdessen sitze ich hier.
Um zu erzählen, was so passiert.
Und was passiert ist.“
Tamara Bos und Annemarie van Haeringen beschäftigen sich in ihrem illustrierten Kinderbuch „Papa, hörst du mich?“ mit dem Thema Sterben. Im Mittelpunkt des Buchs steht die Schwierigkeit für ein Kind, den Tod zu begreifen. Dabei konzentrieren sich die Verfasserinnen auf die Gefühls- und Gedankenwelt des Kindes, darauf, wie ein siebenjähriges Kind mit der Sterbesituation klarzukommen versucht.
Das Kinderbuch überzeugt durch eine klare, minimalistisch angelegte Sprache, die mit kurzen und prägnanten Sätzen Polles Gedanken nachzeichnet. Das Layout des Textteils wirkt fast wie das eines Gedichts, wird doch auch durch die Form des Textes abgebildet, wie der sich erinnernde und beobachtende Polle nach und nach und offenbar mit Unterbrechungen seine Gedanken aufbaut. Jede neue Gedankeneinheit beginnt mit einer neuen Doppelseite. Polle vergegenwärtigt sich einzelne Begebenheiten aus seinem kurzen Leben, die er mit seinem Vater erlebt hat. Durch das realistische Erzählen werden die Gedanken des Jungen glaubhaft wiedergegeben. Durch die Kürze der Sätze und die beinahe nüchterne Wiedergabe des Geschehens wird deutlich, dass Polle nicht wirklich versteht, dass sein Vater gestorben ist. Polle realisiert den Verlust noch nicht, weil er noch nicht in der Lage ist zu abstrahieren, was der Tod des Vaters bedeutet: „Denn du bist doch noch da.
Ich kann dich noch anschauen.
Und ich kann dich noch anfassen.“
Das Gefühl für die Zukunft des Lebens ist in diesen Augenblicken der Trauer über den Vater nur in der Vergegenwärtigung der Vergangenheit zu finden. Durch Polle erfahren wir viele Eigenschaften des Vaters, wir lernen ihn so kennen, wie Polle ihn in Erinnerung hat. Durch diese Rückblicke, die das gesamte Buch durchziehen, wird dem Leser bewusst, dass Polle sich seiner Umwelt nicht mehr sicher ist, denn „Alles ist jetzt anders, da du tot bist.“
„Manchmal siegte die Medizin.
Manchmal siegten dann wieder die Soldaten.“
Die Veränderungen in Polles Leben werden nicht nur auf der textuellen, sondern auch auf der Illustrationsebene veranschaulicht. Annemarie von Haeringen bringt den Kampf des Vaters gegen die Krankheit durch minimalistische und gerade deshalb aussagekräftige und treffende Illustrationen auf den Punkt. Sie zeichnet den Kampf des Vaters um das Überleben symbolisch-abstrakt als einen Kampf zwischen zwei Soldatengruppen.
Die freistehenden, silhouettierten Zeichnungen sind jeweils auf eine Doppelseite platziert. Sie erzählen die Geschichte thematisch aus einem anderen Blickwinkel als der Textteil, zu dem sie sich komplementär verhalten. Van Haeringens Illustrationen gehen ausschließlich auf die Krankheit des Vaters ein. So wie der Textteil das wiedergibt, was in Polle vorgeht, so erzählen die Illustrationen, wie der Vater seine Krankheit erlebt hat.
Polle hat früher mit seinem Vater sehr gerne „Stratego“ gespielt. Dieses Spiel nimmt Annemarie van Haeringen als Ausgangslage für ihre Illustrationen. Auf dem Innendeckel des Buches wird man von blau uniformierten Soldaten, die in Reih und Glied stehen, begrüßt. Am Ende der Soldatenreihe sind noch die für das Spiel „Stratego“ wichtigen sechs Bomben zu sehen. Das gleiche Bild finden wir auch auf dem hinteren Innendeckel des Buches wieder. Allerdings sind hier die Soldaten rot uniformiert, und die sechste Bombe ist durch den Sensenmann ersetzt.
Dieser Rahmen der beiden verfeindeten Soldatengruppen wird im Verlauf des Buches ausgearbeitet. Die beiden Soldatengruppen geben auf abstrakte Weise den Kampf des Vaters (blaue Soldaten) gegen die Krankheit (rote Soldaten) wieder. Ein weiterer, besonderer Aspekt, der das Thema präsent werden lässt, ist die Reduzierung auf zwei Farben – Leben oder Tod.
Das Zusammenspiel von Bild und Text funktioniert in diesem Buch auf eine besondere Weise, wobei Text und Bild sich des Themas auf verschiedenen (Abstraktions-)Ebenen annehmen. Während Polles innerer Monolog den Krankheitsverlauf und das Sterben des Vaters, die Reaktionen der Familie auf den Tod, das Abschiednehmen und die Kremierungsvorbereitungen auf eine in diesem Kontext bemerkenswert realistische Weise zum Ausdruck bringt, visualisieren die Illustrationen den Krankheitsverlauf des Vaters auf einer abstrakten, für Kinder gleichwohl eingängigen Verstehensebene. Dieser abstrahierende Zugang über die Zeichnungen mildert die mitunter fast schon schmerzhafte Realität des Textes ab und schafft dem Leser Entlastung.
„Papa, hörst du mich?“ veranschaulicht auf einzigartig rührende, traurige und vor allem glaubhafte Art und Weise die Gedankengänge eines Kindes, das versucht, den Tod des Vaters zu verstehen. Bos und van Haeringen ist ein sehr empfehlenswertes Buch gelungen, das eine realistische Geschichte vom Sterben erzählt, aber es trotzdem schafft, die harte Konfrontation mit dem Thema durch die Illustrationen auf eine weitere, für Kinder verständliche Ebene herunterzubrechen.