Knösel, Stephan: Jackpot – Wer träumt, verliert
Wo ist das Geld?
von Verena Vortmann (2013)
22. Dezember, 15.43 Uhr: Der 14-jährige Chris joggt durch den Winterwald, als er plötzlich das Röhren eines Automotors vernimmt, kurz darauf einen lauten Knall. Ein Auto kracht nur ein paar Schritte von Chris entfernt gegen einen Baum. Der Fahrer des Unfallwagens rührt sich nicht mehr, ist schwer verletzt. Als Chris den Verbandskasten sucht, macht er eine schockierende Entdeckung: Im Kofferraum liegt eine junge Frau. Die Situation wird noch merkwürdiger, als sie Chris, anstatt um Hilfe zu bitten, nach Namen und Adresse fragt und ein ungewöhnliches Anliegen vorbringt: „Die graue Reisetasche hier. Sie ist ziemlich schwer. Ich möchte, dass du sie für mich versteckst.“
Mit seinem neuen Jugendroman „Jackpot – Wer träumt, verliert“ gelingt Stefan Knösel ein actionreiches Werk voller Verwirrungen und überraschender Wendungen. In zehn Kapiteln wird die spannende Geschichte über den Verbleib der grauen Tasche und damit von vier Millionen Euro, Beute eines Überfalls auf einen Werttransport, erzählt.
„So viel Geld, wie Du noch nie in deinem Leben gesehen hast. Über die Belohnung reden wir beim nächsten Mal, okay?“ Chris tut, was die Fremde von ihm verlangt und nimmt die Tasche an sich. Geld können er und sein Bruder Phil gut gebrauchen. Nach dem Unfalltod der Mutter vor einem halben Jahr ging es bergab, seit Kurzem wohnen sie in einem Hochhausblock im Münchner Hasenbergl. „Wir haben kein Geld und bald auch keine Wohnung mehr! Unser Vater ist fertig mit der Welt. Weil unsere Mutter tot ist, Scheiße noch mal!“ Tatsächlich hat sich der Vater in der neuen Wohnung noch nicht blicken lassen. Jetzt steht Weihnachten vor der Tür und die beiden Brüder sind gefangen in einem Geflecht aus akuten Finanzierungssorgen, Scham und dem krampfhaften Festhalten an der Hoffnung, der Vater kehre zu ihnen zurück.
Das Mädchen aus dem Kofferraum, Sabrina, ist mit einigen leichteren Verletzungen von der Unfallstelle nach Hause geflohen. Bald schon klingelt die Polizei an der Wohnungstür: der Lebensgefährte der Mutter, Matthias, war der Fahrer des Unfallwagens. Das irritierende, viel zu abgeklärte Verhalten Sabrinas veranlasst die ermittelnde Kommissarin Katrin Menschick, Sabrina beschatten zu lassen: Menschicks junger Kollege Afrim haftet sich an Sabrinas Fersen.
Auf der Suche nach Chris und ihrer Tasche lernt Sabrina Elom kennen, den Anführer einer Gruppe Jugendlicher, die in der gleichen Siedlung wie Chris und Phil wohnen. Auch Elom interessiert sich brennend für die Geschichte, die hinter dem abenteuerlichen Lügenmärchen steckt, das Sabrina ihm auftischt. Er führt sie zu Chris´ Haustür. Der ist jedoch alles andere als begeistert darüber, dass Sabrina ihn gefunden hat. Skeptisch hinterfragt er ihre Version der Geschichte, während sein Bruder Phil sich Hals über Kopf in das undurchsichtige Mädchen verguckt. Zahlreiche Hindernisse gestalten eine Flucht äußerst schwierig. Elom wittert seine große Chance, dick abzusahnen – und die Polizei wird auf die beiden Brüder aufmerksam und stürmt die Wohnung. Die vermeintliche Geldtasche unter Chris´ Bett ist randvoll mit alten Zeitungen. Wo ist das Geld?
Stefan Knösel wurde für seinen Debütroman „Echte Cowboys“ mit dem Literaturstipendium der Landeshauptstadt München, dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur und dem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet. Nun folgt sein zweiter Jugendroman: An manchen Stellen sehr ehrlich und brutal schildert Knösel die Erlebnisse der Jugendlichen. Das Buch liest sich wie ein spannender Krimi, ist aber zugleich auch eine zarte Liebesgeschichte, denn inmitten der Aufregung entdecken Phil und Sabrina ihre Gefühle zueinander. Schon nach kurzer Zeit sind sich die beiden einig: Sie haben im Anderen die große Liebe gefunden. Obwohl die Liebesgeschichte nur kurz angerissen wird und auf oberflächlichen Gesprächen und dem ersten Austausch von Zärtlichkeiten beruht, wirkt sie – aus der Sicht der beiden Jugendlichen geschildert – glaubwürdig.
Die Kapitel des Romans sind protokollartig mit Datum und Uhrzeit überschrieben und folgen meist chronologisch aufeinander. Diese Reihenfolge wird am Ende der Geschichte aufgebrochen. Hier arbeitet Knösel mit zeitlichen Sprüngen und Rückblenden, um die Spannung zu erhöhen. Erst im Verhör selbst erfährt man durch den Dialog zwischen der Kommissarin und Phil, was sich zuvor zugetragen hat. Und als Matthias Phil niederschlägt und Chris entführt, weiß der Leser noch gar nicht, wie das geschehen konnte.
Hinzu kommt ein permanenter Perspektivwechsel des personalen Erzählers: Im ständigen Wechsel wird die Geschichte aus der Sicht beinahe aller handelnden Figuren – meist jedoch aus der Sicht von Chris, Phil oder Sabrina – erzählt. Die vielen Perspektivwechsel können mitunter verwirrend sein, da sie oft sehr unvermittelt geschehen. Gerade weil der Leser so viele unterschiedliche Identifizierungsmöglichkeiten hat, ist es für ihn schwierig zu beurteilen, wer die Wahrheit sagt. Wem kann man glauben? Bis zuletzt ist unklar, wer das Geld hat verschwinden lassen.
Immer wieder stellt sich die Frage: Was würde ich mit so viel Geld, mit einem solchen Jackpot anstellen? Für die beiden Jungen in ihrer misslichen Lage ist der Reiz groß. Der Roman behandelt die Zäsur im Leben der beiden Brüder, das damit verbundene, erzwungene, viel zu schnelle Erwachsenwerden von Chris und Phil. Noch vor einem halben Jahr war Chris´ größte Sorge das Zwischenprüfungszeugnis – jetzt muss er sich in einer völlig anderen Umgebung behaupten. Die beiden Brüder werden aus einer wohlbehüteten Umgebung herausgerissen und sind auf sich allein gestellt. Ein Pokerface ist alles, was Chris noch bleibt. Dazu kommt das Eingeständnis: Der Vater kommt nicht wieder. Chris und Phil wird nichts geschenkt, Zukunftsängste bestimmen ihr Leben. Und dann – ganz ohne Anstrengung und persönliches Zutun – bietet sich die Chance auf eine Menge Geld.
Die Geschichte überzeugt durch ihr Tempo. An mancher Stelle ist es schwierig, dranzubleiben, aber gerade das macht den Reiz aus. Eine weitere Stärke des Buches sind die authentischen, mal ironischen, mal bedrohlichen Dialoge. Allerdings wird vor allem die Polizei dabei sehr klischeebehaftet dargestellt: Gerade wenn die Kommissarin am Schluss versucht, Matthias das Geldversteck zu entlocken, erinnern die Methoden stellenweise an US-amerikanische Krimiserien. Doch obwohl Knösel mit vielen Klischees arbeitet und auch wenn die Figuren an mancher Stelle etwas stereotyp dargestellt werden, verzeiht man es seinem Text: Der Roman ist temporeich, actiongeladen und fesselnd und überrascht mit einem Ende, das nicht den gängigen Moralvorstellungen entspricht.