zum Inhalt springen

vergrößern:
Jutta Richter:
Helden
München: Hanser 2013
96 Seiten
€ 10,00 / Kindle Edition: € 8,49
Kinderbuch ab 8 Jahren

Richter, Jutta: Helden

Ihr seid mir Helden!

von David Winands (2013)


„Mama hat den Zeitungsausschnitt an die Küchenpinnwand gesteckt, und ich muss dieses Foto jeden Morgen ansehen und wieder und wieder den Text lesen.“ Als Held wird man nicht geboren. Man muss eine revolutionäre Maschine erfinden oder mit einem Tor eine ganze Fußballnation begeistern oder vielleicht einem Menschen das Leben retten. Was aber, wenn man als Held gefeiert wird, obwohl man gar nichts Besonderes getan, eigentlich sogar Mist gebaut hat?

Gemeinsam mit ihren Freunden Corinna und Felix hat Mia in ihren Sommerferien Langeweile, und die Kinder spielen lustlos am benachbarten Bahndamm mit Ameisen. Da kramt Felix Streichhölzer aus seiner Tasche hervor und fängt an zu schröggeln. Es kommt, wie es kommen muss: Die Sträucher fangen an zu brennen, die Bahnstrecke verwandelt sich in kurzer Zeit in ein einziges Flammenmeer. Abhauen, denken die drei Freunde sofort und rennen weg. Als sie sich aus ihrem Versteck heraustrauen, ist das Feuer schon längst gelöscht, und sie werden, da sie kurz vor dem Türmen noch gesehen worden sind, als Ersthelfer und vorbildliche Kinder sogar in der Zeitung gelobt. Plötzlich sind sie Helden statt Feuerteufel.

Die neue Situation macht Mia, Corinna und Felix das Leben nicht leichter: Ständig plagt sie das schlechte Gewissen, und dazu bedrückt sie die Angst, doch noch entdeckt zu werden. Felix müsste dann sicherlich wieder zurück in ein Kinderheim, und die anderen würden ordentlich Ärger bekommen. Und dann will auch noch der übergewichtige und geschwätzige Metzgersohn Lukas unbedingt in ihrer Detektivbande mitmachen, und die Vermieterin Fräulein Fontana nervt sowieso. Nicht zu vergessen Herr Brüning. Der redselige Nachbar kommt häufiger in betrunkenem Zustand aus der Kneipe, und für eine kleine Hilfe beim Nachhausegehen steckt er den Kindern fünf Euro zu. Da kommt es Mia und ihren Freunden ganz gelegen, dass Herr Brüning plötzlich als der Feuerteufel vom Bahndamm ins Visier gerät und sie somit nicht mehr in Verdacht stehen können.

Als dann aber die Polizei anrückt, Herr Brüning kollabiert und dem unwillkommenen Lukas das alles auch noch gefällt, beschließen die drei Freunde, etwas zu unternehmen.

Jutta Richter beschreibt Mias Sommerferien so erlebnisreich und spannend, wie man es von einer Preisträgerin des Deutschen Jugendliteraturpreises erwartet. Nach dem ausgezeichneten Buch „Der Tag, als ich lernte, die Spinnen zu zähmen“, den Seefahrergeschichten in „Das Schiff im Baum“ und den Erzählungen des ungarischen Hirtenhundes Brandon in „Ich bin hier bloß der Hund“ führt die preisgekrönte Autorin ihre Leser nun zu einem verkohlten Bahndamm in Hemsbach und schreibt die Gewissensbisse der Ich-Erzählerin auf.

Im Mittelpunkt steht aber nicht Mias schlechtes Gewissen, behandelt werden vielmehr zentrale Probleme von Kindern und Jugendlichen: der Zusammenhalt unter Freunden, Streit mit Altersgenossen, das Unverständnis der Eltern, zerbrochene Familienverhältnisse, schimpfende Erwachsene und der alltägliche Tratsch im Dorfleben. Für Mia steht fest: Die Welt ist immer gegen mich, und alles ist unfair.

Die Erzählung ist geschickt aufgeteilt in zwei Handlungsstränge. Der größere Teil der Handlung wird rückblickartig in der Vergangenheit erzählt: In diesen, mit Überschriften versehenen Kapiteln schildert Mia vor allem die inhaltliche Geschichte. Im Wechsel hierzu stehen immer wieder kürzere, präsentisch erzählte Kapitel, die nur mit Ziffern überschrieben sind. Hier erzählt Mia von Streitgesprächen zwischen den Eltern und anderen Situationen und Konflikten zu Hause. Auch durch die beinahe szenische Darstellung des Geschehens in diesen Kapiteln entstehen so gucklochartige, distanzlose Einblicke in geschlossene Kreise.

Schnell wird deutlich, dass nicht nur Mia und ihre Freunde, sondern auch die Erwachsenen Geheimnisse in sich tragen: Eine Mutter wurde von ihrem Mann verlassen und kommt darüber nicht hinweg, der Nachbar ist vereinsamt und trinkt zu viel Alkohol, und die eigenen Eltern streiten sich andauernd über die Erziehung ihrer Tochter. Viel bleibt dabei im Verborgenen, bemühen sich die Erwachsenen doch stets, die Fassade zu wahren. Für die Kinder stellt sich das Nicht-Gesagte als „das Unheimliche“ dar, dem sie in ihrem Detektivclub auf den Grund gehen wollen.

Und doch fragt sich der Leser gemeinsam mit Mia, ob die Welt wirklich so eintönig ist, wie sie scheint. Denn will ich lieber einen attraktiven Papa weit weg in der Wüste oder einen uninteressierten Papa zu Hause haben? Vielleicht gibt es auch gar keine überdimensionalen Heldentaten, keine Erfindungen, keine Tore und keine Retter, sondern eher ganz viele kleine Helden. Helden, die kritisch ihre eigene Meinung reflektieren, die sich Gedanken machen, die nicht direkt die Meinung von Frau Trietsch von der Wursttheke übernehmen.

Auch wenn man Mist gebaut hat, so kann man immer noch ein kleiner Held werden. Ein Held, der einen vereinsamten Mann besucht. Ein Held, der seine verängstigte Mutter zu einer lächelnden Königin macht. Ein Held, der die Weinflasche wegstellt, bevor die Versuchung kommt. Helden lernen aus ihren Fehlern. Helden tragen Verantwortung.

Jutta Richter widmet das Buch allen Kindern, „die auf ein Wunder warten“. Wunder ereignen sich täglich in vielen kleinen Situationen. Das erfährt Mia, wenn ihr Papa doch noch Hein Blöd ist und sie die kleine Robbe, wenn Herr Brüning doch zu ihnen statt zur „Trietschtratsche“ hält, wenn Corinna doch noch Besuch aus der Wüste bekommt. Wunder erfährt aber auch der Leser, wenn aus einer schwarzen, verkohlten Bahndammwüste ein buntes, lebendiges Straßenfest wird.

 

Leseprobe