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Titelbild
Gus Gordon:
Herman und Rosie – Eine Geschichte über die Freundschaft
Aus dem Englischen von Gundula Müller-Wallraf
München: Knesebeck 2013
32 ungez. Bll
€ 14,95
Bilderbuch ab 10 Jahren

Herman und Rosie - Eine Geschichte über die Freundschaft

Die einsame Suche nach Jazz

von Milena Preus (2013)


„Schließlich, nach mehreren Monaten Erfahrung, wurde mir klar, dass [New York] eine glänzende Wüste ist – eine gewölbte und vieltürmige Einöde – wo der Fremde unter Millionen seiner Artgenossen EINSAM ist.“ (Mark Twain, 5. Juni 1867)

Dieses Zitat Mark Twains ist Gus Gordons neuestem Bilderbuch „Herman und Rosie“ als Motto vorangestellt. Und ähnlich wie der amerikanische Autor es vor vielen Jahren formulierte, fühlen sich auch die beiden Protagonisten in Gordons Geschichte: Obwohl ihnen die Hektik des New Yorker Alltags vermittelt, „alles sei möglich“, sind sie oft ebenso einsam.

Herman Schubert und Rosie Bloom wohnen fast nebeneinander, teilen eine Vorliebe für Unterwasserfilme und Jazzmusik. Herman arbeitet in einem Büro und verkauft „Sachen“. Er ist glücklich in seinem Beruf und genießt es, dort „einfach mit jemandem sprechen zu können“. Rosie verdient sich ihren Unterhalt als Tellerwäscherin und nimmt nachmittags Gesangsunterricht, um sich auf den Höhepunkt ihrer Woche vorzubereiten: einen Auftritt in einem kleinen Jazzclub. Trotz der vielen Gemeinsamkeiten sind sich Herman und Rosie noch nie begegnet.

Eines Abends hört Herman zufällig Rosies „wunderschönen Gesang“. Er inspiriert ihn zu „einer hübschen, kleinen Jazzmelodie“ auf seiner Oboe. Hermans Melodie wiederum erfüllt Rosies kleine Wohnung. Fortan begleitet die Musik die beiden durch die hektische und belebte Stadt, und obwohl sich ihre Wege ständig kreuzen, laufen sie, ohne es zu bemerken, immer wieder aneinander vorbei. Als eines Tages Herman gekündigt wird und auch Rosies Jazzclub schließen muss, vergeht beiden die Lust am Musizieren. Sie sitzen in ihren kleinen Wohnungen, essen und schauen sich die gesamte Jaques-Cousteau-Unterwasserfilmsammlung an. Jeder alleine für sich.

Nach einer Weile der Einsamkeit ist eines Tages jedoch „alles anders“. Bei einem Spaziergang durch die ganze Stadt führt sie das Schicksal auf unterschiedlichen Wegen an einen gemeinsamen Punkt: ihren Lieblings-Hotdog-Stand. Aber auch dieses Mal nehmen sie einander nicht wahr, sondern gehen getrennte Wege. Doch schon bald sollen sie sich kennenlernen. Inspiriert von dem schönen Tag, entscheidet sich Herman, seine Oboe wieder unter dem Bett hervorzuholen und zu spielen. Und dieses Mal folgt Rosie der Musik …

Als erfolgreicher Kinderbuchautor und Illustrator hat der Australier Gus Gordon bis dato etwa 70 Kinderbücher (mit-) gestaltet. In seinem aktuellen Werk hat Gordon eine Welt voller Jazz geschaffen. Wenn Rosies Zehen zu kribbeln beginnen oder ein Spaziergänger mit seinem Gehstock im Takt schlägt, fühlt auch der unmusikalischste Leser buchstäblich die auf Bewegungsgefühl bezogene Rhythmik des Jazz. Bereits das Cover ist eine Anspielung: Der beigefarbene Untergrund stellt die Hülle einer Vinylplatte dar. Trotz der Leidenschaft für Musik und der schlaflosen Großmetropole ist die Einsamkeit gegenwärtig. Herman und Rosie bleiben für sich alleine in ihren kleinen Wohnungen.

Der Textteil zeichnet sich durch kurze, einfache und doch poetische Sprache aus: „Es war eine andere Art von Geräusch. Da sang jemand … … und das klang ganz wunderbar. Es fühlte sich an wie direkt aus dem Glas genaschter Honig.“ So beschreibt Herman Rosies Gesang. Die Struktur der Geschichte ist im Text ablesbar, doch die Atmosphäre und die Feinheiten der Geschichte entfalten sich erst durch die abwechslungsreichen Bilder. So wird der hektische Charakter New Yorks zum Teil durch Graffitis symbolisiert. Mal stehen sie im positiven Sinne für die Menge an Möglichkeiten, die die Stadt zu bieten hat, mal negativ für die Unruhe und den damit verbundenen Stress.

Gordon verwendet für seine Zeichnungen neben Aquarellfarben Buntstifte und Kohle und setzt unterschiedlichste Materialien für Collagen ein. Außer Fotografien benutzt er auch alte Zeitungsausschnitte oder Stadtpläne. Hermans Kündigung wird, passend zur Situation, auf alten, vergilbten Kalender- und Kontokorrentblättern dargestellt. Abgebildete alte Postkarten zeigen Szenen aus dem Alltag. Mitunter sind die Bilder bunt und detailreich, dann wieder melancholisch und trist. Oft sind glückliche Momente – wie Rosies Auftritt im Jazzclub – mit kräftigen Farben dargestellt. Traurige Situationen, wie die Kündigung oder die Schließung des Jazzclubs, werden mit eintönigen Farben gestaltet und mit nur wenigen Details versehen.

Auf dem im Vor- und Nachsatzpapier abgebildeten New Yorker Stadtplan sind Herman und Rosies Wohnungen eingezeichnet, ebenso wie der gemeinsam favorisierte, aber bis beinahe zuletzt nicht gemeinsam besuchte Hotdog-Stand. Auf einer Doppelseite findet sich dann eine Collage von Manhattan, auf der Herman und Rosies Spazierwege eingezeichnet sind. Hermans Wege sind durch grüne, Rosies Wege durch rote Strichlinien markiert. „Überall“, ob in der U-Bahn oder der Bibliothek, kreuzen sich Herman und Rosies Wege, aber lange Zeit nehmen sie sich gegenseitig nicht wahr. Es wird sichtbar, welche Distanz Herman und Rosie trennt, obwohl sie sich eigentlich sehr nah sind. Die beiden Handlungsstränge um Herman und Rosie laufen parallel nebeneinander her: Die Protagonisten erleben dieselben Dinge, gehen dieselben Wege und begegnen sich trotzdem erst am Ende. Dort, wo sowohl Herman als auch Rosie auf einem Bild zu finden sind, dürfte es jüngeren Kindern schwerfallen zu erkennen, dass hier zwei Handlungsstränge einander kreuzen, aber nicht ineinander aufgehen.

Sämtliche Figuren des Bilderbuchs sind Tiere, Herman ist ein Krokodil, Rosie eine Antilope. Durch dieses Setting und die Vermenschlichung der Figuren spielt die Geschichte mit den Gattungskonventionen der Fabel. Gleichwohl fehlt ihr deren allgemeiner Anspruch, was bereits darin zum Ausdruck kommt, dass die beiden Protagonisten mit individualisierenden Namen ausgestattet sind. Zum Schluss gibt es dann auch keine fabeltypische Lehre: Die vorletzte Seite zeigt die beiden vielmehr gemeinsam auf Hermans Dach. Sie sitzen dort und betrachten den Mond. Wie viel Zeit vergeht, bis die beiden auf der letzen Seite gemeinsam in einer eigenen Band musizieren, bleibt ungewiss. Auch über die Art ihres Verhältnisses schweigt sich die Geschichte aus: Sind sie Kumpel, gute Freunde – oder doch ein Paar? Auch Hermans und Rosies (gemeinsame?) Zukunft bleibt für den Leser ungewiss. Doch für beide ist klar: „Von diesem Tag an war die Stadt irgendwie nicht mehr die gleiche.“

Die von Twain beschriebene einsame „glänzende Wüste“ erleben Herman und Rosie auf ihre eigene Weise. Dabei führt der der deutschen Übersetzung hinzugefügte Untertitel „Eine Geschichte über die Freundschaft“ in die Irre, suggeriert er doch eine bestimme Lesart des Bilderbuches, die dem Inhalt nicht gerecht wird: „Herman und Rosie“ ist eine Geschichte nicht über Freundschaft, sondern über Einsamkeit und deren Überwindung. Denn Herman und Rosie beugen sich ihr nicht, sondern „folgen“ der Melodie und werden am Ende belohnt – auch wenn unklar bleibt, wie lange ihre Zweisamkeit währt.

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