Sunne, Linn T.: Das Leben spielt sich anderswo ab
Aufhören zu kreisen
von Lina Weber und Sandra Salwiczek (2013)
Voller Sehnsucht blickt Ella dem Sommer entgegen. Es muss etwas passieren zwischen ihr und Simon, denn der wechselt bald die Schule und wird dann für sie unerreichbar sein. Die Party in Svartstein scheint wie geschaffen, die Dinge in die Hand zu nehmen – doch dann kommt alles ganz anders.
Mit ihrem Vater lebt Ella in einem verschlafenen Ort an der Westküste Norwegens. Das Zusammenleben der beiden klappt reibungslos. Ellas Verhältnis zu ihrer Mutter dagegen ist komplizierter: Oft sehen sich die beiden nicht, seit die Mutter vor zehn Jahren ausgezogen ist. Dafür versteht Ella sich umso besser mit ihrer Tante Grete, die Bürgermeisterin des kleinen Ortes ist und so ganz anders als ihre Eltern.
Ellas Freundinnen Olivia und Noor wissen genau, wie sehr sie Simon mag. Die drei Mädchen kennen sich seit einer Ewigkeit und unternehmen alles zusammen. In diesem Sommer wollen sie etwas erleben – endlich. Deshalb geht es jeden Abend auf den Spielplatz. Hier treffen sich alle: Ella und ihre Freundinnen, Marius, Simon und die anderen.
Ehe Ella es sich versieht, ist auch schon Donnerstag – der Tag der Party. Die einzige noch verbleibende Mitfahrgelegenheit bietet ausgerechnet Steinar, der „Psycho“, der schon 23-Jährige, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als mit seinem Wagen umherzufahren. Auf der Party angekommen, muss Ella dann mit ansehen, wie Simon mit einer anderen tanzt – und sie trinkt einen Drink nach dem anderen.
„Es ist eiskalt. Und dunkel. Ich liege in einer Senke, weitab vom Lagerfeuer. Es hat einen Moment gedauert, bis ich mich wieder an das Feuer und die Party erinnert habe. Wo stecken nur Olivia und Noor? Was ist bloß passiert? Was zum Teufel ist bloß passiert?“
Nur stückchenweise kehrt Ellas Erinnerung an die Nacht zurück. Sie ahnt schon, dass sie die Sache mit Simon vermasselt hat – und „das in mehr als einer Hinsicht“. Doch es kommt noch schlimmer: Steinar, den Ella in der Partynacht angerufen hatte, damit er sie abhole, zwingt Ella, ein ganzes Jahr lang seine Freundin zu spielen. Wenn sie sich weigert, wird er ein Foto von ihr veröffentlichen. Das aber darf niemand sehen!
Die norwegische Kinder- und Jugendbuchautorin Linn T. Sunne wurde 2007 und 2012 mit dem Brage-Preis für das beste norwegische Jugendbuch ausgezeichnet. In ihrem Werk „Das Leben spielt sich anderswo ab“ erzählt sie von einem Mädchen, das vergewaltigt wird und dann in eine scheinbar auswegslose Lage gerät, aus der es sich aber schlussendlich wieder befreien kann.
Die Erzählsituation ist durch Auslassungen gekennzeichnet. Der Leser wird oft im Unklaren über Handlungselemente gelassen, bis Ella schließlich mit der ‚Wahrheit’ herausrückt. Erst nach und nach, in dem gleichen Tempo, in dem auch Ellas Erinnerungen zurückkehren, erfährt der Leser, was in der Partynacht geschehen ist.
Sehr subtil stellt Sunne dabei den psychischen Zustand der Traumatisierung dar. Wenn Ella keinen Zusammenbruch erleidet, dann nur, weil der Abwehrmechanismus der Verdrängung sie davor bewahrt. Stattdessen schluckt sie aufkeimende Panik herunter und begibt sich in soziale Isolation. In die erzwungene ‚Freundinnen‘rolle fügt sie sich aus Scham – es scheint ihr die einzige Möglichkeit, ihr Gesicht zu wahren. Um mit der Situation zurechtzukommen, identifiziert sie sich sogar zeitweise mit dieser Rolle und fügt sich in ein nunmehr fremdbestimmtes Leben an der Seite des merkwürdig verschlossenen jungen Mannes. Doch mit der Zeit spürt sie eine unbändige Wut in sich. Auf Steinar, der sie mehr und mehr zu kontrollieren versucht. Und auf Marius, der ganz und gar nicht unschuldig ist an der ganzen Sache.
Der Autorin gelingt es, das schwierige Thema einer Vergewaltigung zu behandeln, ohne dabei das eigentliche Erlebnis präsent werden zu lassen. Sie verliert sich nicht in Beschreibungen des verstörenden Erlebnisses, sondern irritiert eher durch Auslassungen. Der Leser fragt sich, ob es wirklich DAS sein kann, von dem hier (nicht) die Rede ist. Damit steht er in etwa auf einer Ebene mit Ella, die durch ihren alkoholbedingten ‚Filmriss‘ über den Vorfall kaum mehr etwas zu wissen scheint.
Die von Ella empfundene Scham über das Geschehene lassen sie eine Opferrolle einnehmen, die Steinar ausnutzt, um sie zu erpressen. Trotzdem stellt Ella Fragen, die letztendlich zur Entlarvung ihres Unterdrückers führen. Die sich durch die Erzählung ziehende Metapher des Fahrens verdeutlicht die Stagnation der Protagonisten in einem Zustand, der ein Auf-dem-Weg- und gleichzeitig ein Noch-nicht-angekommen-Sein bedeutet. Ella beendet zum Schluss dieses ziellose Kreisen und geht ihren eigenen Weg weiter. Durch die gewonnenen Informationen findet das Mädchen die Stärke, seiner Umwelt von dem Erlebten zu berichten und sich diesem somit zu stellen.
Der schonungslose Inhalt des Buches steht dabei meist ganz im Gegensatz zu der leichten und lockeren Erzählweise. Das macht den harten Inhalt allerdings nur im ersten Moment ertragbarer. Nur selten wird der lockere Ton in den kurzen Passagen, in denen Ella ihre Emotionen zulässt, unterbrochen. Das elliptische Erzählen lädt zu zahlreichen Interpretationen ein. Doch statt mit dem Altbekannten zu brechen, erzählt L. T. Sunne in ihrem Entwicklungsroman eine Geschichte, die so ähnlich schon oftmals in anderen Werken erzählt wurde. Leider wirkt daher lediglich das stark elliptische Erzählen des Buches innovativ, nicht aber die Handlung in ihrer Anlage und Durchführung.
Im Laufe der Geschichte drängt immer stärker das Geheimnis um Steinars Vergangenheit in den Fokus. Die Figur des Steinar weist dabei eine Vielzahl an stereotypen Eigenschaften auf, die den konstruierten Charakter der Handlung hervorheben: Er ist homosexuell (was aber keiner wissen darf), kommt aus einem sozial schwachen Milieu, gibt sich als Stalker und verbringt die meiste Zeit in seinem Auto, das er hegt und pflegt und über das er fast eifersüchtig wacht. So gerät Ellas traumatisches Erlebnis in den Hintergrund. Das Ende der Erzählung erfolgt abrupt und bringt mit Simons Tod eine dramatische Wendung mit sich, welche von der Logik der Geschichte her nicht unbedingt nötig gewesen wäre.
Trotz der Vielzahl an Themen, die in dieser Kombination ein wenig konstruiert wirken, ist „Das Leben spielt sich anderswo ab“ ein lesenswertes Buch, das, teils poetisch anmutend, die innige Verbindung zwischen Freundinnen und die Anfänge einer ersten Liebe beschreibt, die dann jedoch um einiges dramatischer verläuft als man es erwartet. Leider bedient die Geschichte vor allem mit der Beschreibung Steinars eine Vielzahl von Klischees.