Pressler, Mirjam: Wer morgens lacht
Loslassen
von Nadine Bieker (2013)
Anne ist 22 Jahre alt, studiert Biologie und lebt in Frankfurt. Mit neunzehn ist sie zu Hause ausgezogen, vierhundert Kilometer weit weg, weil sie endlich die Vergangenheit hinter sich lassen wollte. Doch diese holt sie immer wieder ein – beim Joggen oder auch in der Uni, und selbst in ihrem neuen Zuhause ist sie wieder da: Marie. Annes drei Jahre ältere Schwester ist von zu Hause weggelaufen, als Anne fünfzehn Jahre alt war. Marie, die immer „zu schön, zu besonders und zu willensstark“ war, als dass die Eltern ihr etwas untersagen konnten.
In Mirjam Presslers neuem Roman „Wer morgens lacht“ geht es um die Beziehung zweier ungleicher Schwestern und darum, was das Verschwinden der einen Schwester mit den Hinterbliebenen macht – aber auch darum, was es bedeutet loszulassen, um wieder anzukommen.
Ihre ersten zehn Lebensjahre haben die beiden Schwestern nahezu ausschließlich mit ihrer Großmutter verbracht, denn diese war stets der Meinung, dass die Mädchen niemanden sonst bräuchten – sie waren schließlich schon zu zweit und hatten selbst nie das Gefühl, dass es ihnen an etwas fehle. Nach dem Tod der geliebten Großmutter ist es Marie gelungen, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln, neue Freunde zu finden und sich mehr und mehr vom Leben ihrer Familie fernzuhalten, vor allem von dem Annes. Für Anne ist mit dem Tod der Großmutter eine heile Welt zerbrochen: „Es war, als hätte mit Omis Tod unser Leben seine feste Form verloren, als würde es nach allen Seiten wuchern wie eine bösartige Geschwulst, als wäre die Zukunft, die vorher so offen vor uns zu liegen schien, von giftigen Nebelschwaden verdeckt, und ich fragte mich, ob das nun so weitergehen würde, mein ganzen Leben lang, und ich hatte Angst vor dem, was noch passieren könnte.“
Anne hat stets unter Maries Stärke gelitten („Sie war die Schöne, ich die Gescheite.“) und es auch nach deren Verschwinden nicht geschafft, selbstbewusst zu werden, den Neid und die Eifersucht ihr gegenüber abzulegen. Sie hat den Unmut der Großmutter gegenüber der Welt – „Wer morgens lacht und mittags singt, am Abend in die Hölle springt“ – übernommen. Anne ist menschenscheu, weil sie jedem misstraut – vor allem sich selbst. Sie hat sich nie die Chance gegeben, sich selbst anzuerkennen, hat von ihren Eltern nie erfahren, was es heißt, Anerkennung oder auch nur Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch nun, mit 22, will sie etwas ändern, will Marie loswerden: „Ich halte es nicht länger aus, dass sie sich in mein Leben einmischt und mir die Luft zum Atmen nimmt. Ich muss sie loswerden, das ist meine einzige Chance, wieder nur ich zu sein oder endlich nur ich, so genau weiß ich das nicht, woher soll ich es auch wissen, es gab mich nie ohne sie, von Anfang an.“
Anne beginnt, ihre Geschichte aufzuschreiben, und fragt sich während des Schreibens immer wieder, mit welchem Ereignis ihre Geschichte eigentlich begonnen hat. Pressler hebt diese Gedanken kursiv hervor und verdeutlicht so Annes Unsicherheit, ihr Unwissen über ihre eigene Geschichte: „Die Geschichte von Marie und mir hätte natürlich auch ganz anders anfangen können, vermutlich gibt es Hunderte verschiedene Anfänge für die gleiche Geschichte, es kommt darauf an, von welchem Gesichtspunkt aus man die Sache betrachtet und welchen Moment des Einstiegs man wählt.“ Solche Reflexionen tauchen immer wieder auf, und es wird klar, dass Anne selber erst erkennen muss, was sie wirklich loswerden möchte. Beim Schreiben baut Anne auf ihre Erinnerungen, doch sie muss sich immer wieder fragen, ob es wirklich ihre eigenen Erinnerungen sind oder Erzählungen von anderen, ob es Wirklichkeit oder Fantasie ist, was in ihrem Kopf spukt – und das alles muss sie es loswerden.
Nach und nach gelingt es ihr, über den Verlust der Großmutter, die emotionale Kälte in der eigenen Familie, den Groll gegenüber sich selbst und insbesondere über ihre Gefühle zu Marie zu sprechen. Vor allem aber schafft sie es, die Angst davor zu verlieren, für das verurteilt zu werden, was in ihrer Familie geschehen ist. Mehr und mehr vertraut sich Anne ihrer Mitbewohnerin Ricki an. Dabei verschwimmen für den Leser die Grenzen zwischen dem, was die Erzählerin aufzeichnet und was sie Ricki anvertraut. Mitunter ist es kaum zu entscheiden, welche Teile der Geschichte Anne nun gerade in ihrem Zimmer niederschreibt und welche Teile sie als handelnde Figur erlebt. Nichtsdestotrotz ist man schnell bei ihr, fühlt ihre Machtlosigkeit im Kampf mit ihrer Vergangenheit und hofft, dass sie es schaffen möge, sich zu öffnen und keine Angst mehr vor ihren Gefühlen zu haben.
Anne hat immer im Schatten ihrer großen Schwester gestanden, die selbstbewusster war, sich alles herausnahm, ihre Aufgaben immer an Anne abwälzte und trotzdem ihre Schwester mit Verachtung bestrafte. Doch mehr als das hat Anne getroffen, dass Marie sie immer wieder allein ließ. Anne war wütend auf Marie, weil diese sie nie mitnahm, als sie wieder und wieder aus dem Elternhaus, das mit dem Tod der Großmutter den letzten Funken Herzlichkeit verloren hatte, ausbrach. Und Marie hat es letztlich auch geschafft abzuhauen, aus der Familie auszubrechen, um für immer fortzubleiben – und das ohne Anne. Anne, die sich nach der Nähe ihrer Schwester sehnte, hat um Maries Anerkennung gekämpft, sie aber nie bekommen.
Die Eifersucht, der Neid und die Hoffnung auf Anerkennung können nicht die Gründe sein, warum Marie noch immer allgegenwärtig in Annes Leben ist. Man kann beim Lesen zwar den psychischen Druck dieser Gefühle nachvollziehen, jedoch nicht verstehen, warum Marie überhaupt noch so präsent in Annes Leben und Anne deshalb derart gebrochen ist. Gegen Ende des Romans wird dann deutlich, woher Annes übergroße Schuldgefühle rühren: Als sie eine letzte Chance bekam, Marie zurückzuholen, hat sie diese nicht ergriffen. Sie wollte nur noch ohne sie leben.
Schließlich gelingt es Anne zu verstehen, dass keine Distanz der Welt Zorn, Eifersucht und Kummer verebben lassen kann, sondern dass der einzige Weg, der einen zu sich selbst führt, der ist, sich zu öffnen. Anne muss sich ihrer Vergangenheit und vor allem ihren Gefühlen stellen. Sie muss darüber reden, sich selber und ihrer Schwester verzeihen und akzeptieren, was geschehen ist. Nur so kann sie Marie aus ihrem Leben entlassen, damit sie endlich ihr eigenes Leben in Frieden mit sich selbst, aber auch mit den Erinnerungen an ihre großen Schwester leben kann.
Für Leser ab vierzehn Jahren ist „Wer morgens lacht“ ein berührender Roman über das Loslassen der Vergangenheit.