Stoffels, Karlijn: Marokko am See
Grenzen im Kopf, Hoffnung im Bauch
von Julia von Hoegen, Moana Schmid und Cornelia Schultheis (2006)
Jede Stadt hat sie: Viertel, die scheinbar nicht dazugehören, an den Rand gedrängt, weitab vom pulsierenden Stadtleben, gemieden von Touristen und Besuchern. Graue Wohnblöcke reihen sich aneinander, ragen in den Himmel und kennzeichnen die äußere Grenze einer Stadt. Nur vereinzelt schieben sich Grünflächen zwischen die Betonriesen.
Das Amsterdamer Seeviertel, wegen seiner vielen marokkanischen Einwohner „Marokko am See“ genannt, ist solch ein Stadtteil. Hier lebt Issa, ein 13-jähriger Junge marokkanischer Herkunft, mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder in einem Betonbau. Den älteren, vom Vater verstoßenen, Bruder bewundert er, stellt aber zugleich seine westliche Lebensweise infrage. Von seinen Eltern nach muslimischem Glauben erzogen, ist Issa hin und her gerissen zwischen den Traditionen seiner Landsleute und der ihm noch fremden, aber verlockenden Welt außerhalb seines begrenzten Lebens: „In der Schule lernte man viel und zu Hause lernte man wieder ganz andere Sachen, aber niemand lehrte einen, wie man von der einen Welt in die andere und wieder zurückkommen konnte.“
Als Issa, der Schwierigkeiten in der Schule hat, auf eine vorwiegend von Niederländern besuchte ‘Förderschule’ geschickt wird, lernt er das Leben von einer anderen Seite kennen. Einige Werte und Normen, mit denen er aufgewachsen ist, gelten hier plötzlich nicht mehr, während andere in den Vordergrund treten. Fastete im Ramadan an seiner alten Schule fast jeder, wird er in der neuen Schule dagegen durch Pommesgeruch vom Kiosk in Versuchung geführt. Issa ist verwirrt und fühlt sich missverstanden. Erst ein alter Nachbar, ausgerechnet ein „Käskopf“, gibt ihm trotz seiner sprachlichen Schwierigkeiten ein Gefühl der Wertschätzung. Vor allem aber sein Talent, kleine Geschichten, Koranverse und Witze erzählen zu können, hilft dem sensiblen Jungen, letztendlich seinen ganz eigenen Weg zu finden.
In dem Roman „Marokko am See“ nimmt sich die niederländische Jugendbuchautorin Karlijn Stoffels der Probleme junger Menschen mit Migrationshintergrund an. In einem einfühlsamen und humorvollen Ton erzählt sie aus der Sicht des jungen Außenseiters Issa, der keine Sprache so wirklich beherrscht. Sei es die Sprache seiner Eltern, die seiner Religion oder die seiner neuen Heimat – so entstehen für ihn mehrere Welten, die durch die jeweilige Sprache begrenzt sind. Doch Issa lässt sich keine Grenzen setzen. Wenn es sein muss, vermischt er die Worte so, wie sie in seinen Gedanken herumschwirren. „In seinem Kopf ging das ganz von allein. Der war wie ein Suppentopf mit Bissara, Erbsen und Harira durcheinander.“ Es gelingt Stoffels, zwei der größten Probleme vieler Migrantenkinder zu verdeutlichen: Manchmal sind sie verursacht durch die Sturköpfigkeit der Eltern, noch häufiger ist die Ausgrenzung auf Grund mangelnder Sprachkenntnisse. Und doch hat Issa viel zu erzählen. Er ist nicht ‘sprachlos’, ihm fehlen nur meistens die richtigen Worte.
Respektvoll, mit viel Fingerspitzengefühl und Sprachwitz greift die Jugendbuchautorin das Thema Integration auf, ohne durch wertende Kommentare den moralischen Zeigefinger zu erheben. Auch wenn die Lösung von Issas Problemen teilweise romantisiert wirkt und somit eher unrealistisch ist, gelingt es Stoffels, Verständnis und Sensibilität für gesellschaftliche Randgruppen zu wecken. Sie schafft einen wichtigen Beitrag zum aktuellen Thema Interkulturalität und somit eine geeignete Diskussionsgrundlage, gerade auch für Jugendliche.