Gaiman, Neil (Text) und Dave McKean (Illustration): Die Wölfe in den Wänden
Ein kleines bisschen Horrorshow
von Verena Dorbach (2006)
Lucy legt ihr Ohr an die Wand und hört schleichende, krabbelnde, kratzende Geräusche. Für sie ein klarer Fall: Wölfe in den Wänden. Sie hört, wie die Wölfe wölfische Verschwörungen aushecken und wölfische Pläne schmieden. „Wenn die Wölfe aus den Wänden kommen, ist alles vorbei“, wissen zwar die einzelnen Familienmitglieder zu berichten, doch glauben will ihr niemand. „Du hast wahrscheinlich Mäuse gehört“, meint die Mutter, „Fledermäuse“, lacht der Bruder, „verflixte Ratten“, schimpft der Vater. „Ich finde nicht, dass es wie Mäuse klingt“, sagt Lucy. Sie weiß, dass sie längst durch alle Ritzen und Löcher beobachtet werden.
Lucys Familie führt ein routiniertes Alltagsleben: Die Mutter kocht Marmelade, der Vater übt Tuba, und der Bruder ist in der Welt von Videospielen gefangen. Doch plötzlich übernehmen Wölfe das alte Haus. Die wilden Tiere feiern laute Parties, schnarchen mit dickem Wanst in den Betten der Familie und produzieren eine riesige Sauerei. Vertrieben in die hinterste Ecke des Gartens, plant die Familie die Auswanderung. Doch Lucy überzeugt sie zum Widerstand.
In „Die Wölfe in den Wänden“ distanziert der Illustrator Dave McKean den Betrachter von der Familiensituation: Durch kubistisch-skurrile, in Brauntönen gehaltene Bilder verdeutlicht er das triste Alltagsleben. So erwächst das in Kanten und Kreise zerlegte, mit hohlen Augenknöpfen versehene, düstere Gesicht des Vaters durch Photoeinschübe wie die goldene, plastische Tuba zu einer neuen Wirklichkeitsform.
Die akzentuiert kolorierten, mit wenigen Strichen ausdrucksstark gezeichneten Wölfe wirken durch ihre aufgerissenen Mäuler, orangefarbenen Augen und verschrobenen Gestalten zuerst beängstigend, doch bald menschlicher als die Familie: Auf einem grauen Bildhintergrund entwirft McKean einen marmeladenverschmierten, kecken Jungwolf, der die mit Klauen versehenen Pfoten und sein langes Maul frech in die Bildmitte schiebt. Ein Wolfbruder ist wie ein Junkie vor den Videospielen zusammengebrochen, während ein anderer leidenschaftlich eine alte Wolfsmelodie auf der Tuba von Lucys Vater bläst – mit aufgerissenen Augen und vollgepumpten Backen ehrlicher als der Vater dies je könnte.
Der mit dem Comicgenre vertraute Autor Neil Gaiman belebt den märchenhaften Ton des Buches durch Dialogsituationen im Comic-Stil, teilweise mit Sprechblasen! Auf die Bildinhalte reagierend, rundet der Text die Betrachtung der grauenhaft-schönen Collagen und Zeichnungen ab. So stehen die Buchstaben des „Treppengeländers“ schräg zum übrigen Text, und scheinen gemeinsam mit dem abgebildeten Wolf dort herunterzurutschen. An anderer Stelle hebt sich typografisch das Wort „LAUT“ aus dem Text hervor, der die wölfische Fernsehkultur beschreibt.
Dieses Kinderbuch taucht tief in die ambivalenten Gefühle der Hauptperson Lucy ein. Durch die bürgerliche Ruhe gelangweilt, erfährt sie durch die Wölfe einen neuen, energischen Lebensentwurf: Ausdrucksstarke, zerstörerische Anarchie im Wolfspelz bietet einen Freiraum, der Feste feiernd, beste-Klamotten-zerreißend und Marmelade-schmierend keine Grenzen vorgibt. Auf diese Weise bietet das Buch eine Identifikation und Versöhnung mit dem unbekannten ‚bösen Märchenwolf’ an, dessen Leben dem Leser viel lustiger erscheint. Und noch mehr: Lucy besiegt die kindliche Urangst vorm ‚Monster unterm Bett’ durch einen Perspektivwechsel. Sie überzeugt die Familie, in die Wände zu kriechen und das Wolfproblem zu bekämpfen. Jetzt haben die Wölfe ihrerseits Angst, fliehen, und mit einem wölfischen „Wenn die Menschen aus den Wänden kommen“… könnte alles vorbei sein, würde da nicht ein Elefant in der Wand ein Niesen unterdrücken…