Heidelbach, Nikolaus: Königin Gisela
Wozu ist eigentlich eine Königin gut?
von Verena Dorbach (2006)
Gisela ist schiffbrüchig und strandet auf einer einsamen Insel. Na ja, so ganz verlassen ist die Insel nicht, denn es gibt hier fürsorgliche Erdmännchen, die sich wunderbar als Untertanen missbrauchen lassen. Und sie selbst ist nicht mehr Gisela, sondern – wollen wir das Kind mal beim Namen nennen – „Königin Gisela. Anrede: Majestät.“
Das kleine, namenlose Mädchen der Rahmengeschichte ist mit ihrem Vater während der Schulferien in der Normandie ‚abgestiegen’. Doch wie schade: Das vornehme Hotel an der Alabasterküste ist grau, der ungemütliche Strand wartet vergeblich auf Touristen, und auch das Restaurant mit seinen karikaturhaften Gästen und pikiertem Ober ist wenig kinderfreundlich. Und immer wieder:
Frühstück – Schwimmen – Sonnen – Animation – Mittagessen – Siesta – Schwimmen – Sonnen – Animation – Abendessen.
Aber Gisela, die Heldin der Abenderzählungen des Vaters, kann auf ihrer weit entfernten, wunderschönen Insel ihren Tag voll auskosten. Sie hat schließlich treue Untertanen. „Das kommt mir fast vor, als hätten die hier auf jemanden wie mich gewartet“ stellt Gisela nach einem Tag auf der Insel verzückt fest. Bald müssen die Erdmännchen alberne Hüte tragen, bekommen unpassende Namen aufgedrückt, das ganze Leben dreht sich nur noch um Giselas Bedürfnisse und Befehle. Macht macht Spaß! Schließlich fordert Gisela einen Bikini – aus Erdmännchenfell. In dieser Nacht sieht man zum ersten Mal die „kleinen spitzen scharfen Raubtierzähne blitzen“. „Wozu ist eigentlich eine Königin gut?“ fragt das französische Erdmännchen, das nun ‚Charles’ heißt. Jetzt gilt es, sich der Königin zu entledigen …
Die cartoonhaften Bilder von Nikolaus Heidelbach sind naiv, detailliert und witzig. Besonders die Vertreter der Erdmännchenfamilie strahlen eine unglaubliche Komik aus: So singt ein Erdmännchen französische Chansons mit dazugehörigem Schlafzimmerblick in sein Mikrofon, oh pardon, sein Schwanzende. Die großen Panoramabilder der Rahmengeschichte hingegen sind gedeckt, das dunkelgrüne Meer mit grauen, abgenutzten Kreidebergen erscheint dem Betrachter wenig gemütlich. Spannend und ein wenig unheimlich sind die dunklen Bilder des Erdmännchenwiderstandes. Eine Vielzahl kleiner Bilder mit ungewöhnlich viel Text dominieren den Mittelteil des Bilderbuches. Grandios und komisch ist der sorgsam ausgearbeitete Bild-Text-Bezug. Wenn Gisela nach einem ausgereiften Mahl großzügig „Den Rest könnt ihr euch teilen“ sagt, so versteht man diesen unverschämten Kommentar erst mit dem zugehörigen Bild: eine bis aufs letzte abgefressene Fischgräte, eine leere Kokosnussschale und ein Pfirsichkern. Die teilweise recht anspruchsvolle Sprache kann eine Herausforderung an junge Rezipienten im Vorlesealter darstellen. Doch mit ordentlich wörtlicher Rede gepfeffert und im Gesamteindruck spannend, wird dieses Bilderbuch, trotz schwierigeren Passagen und weniger offensichtlicher Komik, ein enormes Vergnügen – vor allem für die Vorleser.
Mit ‚Königin Gisela’ entwirft Nikolaus Heidelbach eine eher ungewöhnliche Robinsonade. In Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ gelingt es dem wilden, kindlichen Max durch Mut und Unverfrorenheit, König der wilden Kerle zu werden. Doch die kultivierte, viel zu erwachsene Gisela, die sich neben der Überfeinerung ihrer Machtgelüste ausschließlich mit Themen wie Massage, Esskultur und ihren Fingernägeln beschäftigt, scheitert vor dem Thron. Sie kümmert sich nicht um die Sicherung ihrer Existenz wie andere Gestrandete, und möchte auch kein neues Utopia schaffen, soviel ist klar. Als kleine Kolonialistin missbraucht sie die gegebenen Umstände für ihre persönliche Tyrannei.
„Geht die Geschichte gut aus?“ „Kommt drauf an, für wen“ sagt Papa. Erst bei der Krönung bereiten die Erdmännchen Gisela einen würdigen Abgang: Auf ihrem Thron mit Baldachin sitzend, mit einer prächtigen Krone bestückt, Federn nicht kürzer als einen Meter, von feierlicher Musik begleitet, wird sie in einer atemberaubenden Zeremonie von den Erdmännchen ins Meer befördert. Fortan treibt sie auf einem Floß einsam über die Weltmeere, ihre hübschen Bänder sind zu Fesseln geworden, die Galionsfigur in Gestalt eines Erdmännchens verhöhnt sie auf ewig – so wird sie mit ihren menschlichen-allzumenschlichen Machtgelüsten zum Mahnmal.
Einige Elemente der Rahmengeschichte könnten Nikolaus Heidelbachs eigener Kindheit entsprungen sein: Die sechziger Jahre, die Rheinlandschaft, der rote DKW, mit dem Vater und Tochter in Urlaub fahren, die Kreideberge der Normandie. Und vielleicht gesteht er damit ein bisschen ein, dass ihm dieses ‚König(in) spielen’ nicht ganz fremd ist. Für Kinder ein entwicklungspsychologisch sinnvoller Ausflug, ist diese Rolle doch auch Erwachsenen nicht ganz unbekannt. Oder?
„Schöne Geschichte“ findet auch das kleine Mädchen.