Moeyaert, Bart: Brüder
Einer für alle, alle für einen?
von Sabine Rüdelstein, Anja Schmitt und Marianna Tsilomanidis (2006)
„Morgen wieder?“ fragt ein Bruder. „Ja, morgen wieder“ flüstern die anderen Brüder. „Was morgen wieder?“ fragt der Kleinste. „Nichts“ antworten sie ihm. Wieder erfährt er nichts, nur weil er zu jung ist; dabei sagen sie doch immer, dass er noch viel zu lernen habe, „sogar sehr viel, eigentlich noch alles.“ Obwohl seine Geschwister oft versuchen ihn auszuschließen, zeigt sich im Verlauf der Geschichten, dass er sich sehr wohl behaupten kann.
In dem Buch „Brüder“ greift der flämische Autor Bart Moeyaert Erinnerungen seiner eigenen Kindheit mit sechs älteren Brüdern auf. Sieben Brüder: Das sind eine warmherzige, verschworene und vor allem gewitzte Bande. Wenn es darauf ankommt wachsen alle zusammen wie „ein einziger Bruder mit vierzehn Armen und Beinen“, denn so fühlen sie sich stark. So erscheinen die Jungen auch dem Leser meist als Kollektiv, ihnen werden weder Namen noch Eigenschaften zugeordnet.
In knapper, meist heiterer und poetischer Sprache wird erzählt, wie die Brüder es wütenden Schwimmbadbesitzern heimzahlen oder wie sie planen, den Wagen des Bäckers zu überfallen, um an frischen Apfelkuchen zu kommen – stets aus dem Blickwinkel des Jüngsten. Diesem kommt eine ganz besondere Rolle zu, denn eine seiner ‚Stärken’ ist, dass er anders denkt als seine großen Brüder und interessiert mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, die er hinterfragt und sich zu erklären versucht. So philosophiert er beispielsweise über die Dimensionen des ihm zugeteilten, ein Quadratmeter großen Beetes: „Alles unter uns gehörte uns, bis zum Feuer in der Erde. Alles über unseren Köpfen gehörte uns, unendlich und noch ein paar Kilometer.“
Die episodenhaften Alltags- und Umweltgeschichten von je ein paar Seiten Länge sind geprägt durch typische Strukturmerkmale: Der Aufbau der Geschichten wird meist dadurch bestimmt, dass die Brüder Anregungen aus der Erwachsenenwelt erhalten und versuchen, diese in ihre kindliche Welt zu übertragen. So untersuchen die Brüder beispielsweise, ob die Pfeife des Vaters tatsächlich kluge Gedanken macht. Für die Durchführung ihres Experimentes basteln sie eigene Pfeifen, bei denen es ihnen nicht auf die Schönheit, sondern auf die Funktion ankommt. Da sie nicht genug Tabak für alle haben, kann nur ein Bruder den Versuch ausführen. Wir „waren davon überzeugt, dass er durch die Pfeife etwas dazu gelernt hatte, etwas, was er – wie unser Vater es oft tat – ganz allein verarbeiten musste, an einem stillen Ort.“ Auch vermeidet Moeyaert das konkrete Aussprechen der Pointe. Dadurch wird der Leser animiert, jede der kleinen Episoden aktiv weiterzudenken, da er sie in seiner Phantasie teilweise selbst vervollständigen muss, um das Komische zu entdecken.
Moeyaert thematisiert das Leben mit all seinen Facetten. Seine Geschichten sind tiefgründiger als bloße Anekdoten und geben einen unverfälschten Einblick in die Lebenswelt des siebenjährigen Protagonisten. So gehören neben spannenden Abenteuern auch ernsthafte Geschichten dazu, die begreiflich machen, dass auch Spiele ihre Grenzen haben. „Mein Bruder gewann beim Treppenlaufen und mein anderer Bruder beim Nüsseknacken, und dass ich als Erster gewusst hatte, dass Memee tot war, darüber ist nie wieder ein Wort gefallen.“
Charakteristisch für jede einzelne dieser Kindheitsgeschichten sind die raffiniert gesetzten Aussparungen, die unterschiedliche Verstehensebenen erzeugen. Durch die sprachliche Komplexität und durch ein gewisses Maß an vorausgesetztem Alltagswissen ist es möglich, dass junge Leser nicht zu allen Deutungsebenen Zugang haben. Dennoch kann sowohl ein Sechsjähriger als auch ein Jugendlicher oder Erwachsener, jeweils aus anderen Gründen, über die Geschichten lachen, denn „Brüder“ hält für jeden eine persönliche Lieblingsgeschichte bereit.