Ulitzkaja, Ljudmila E. (Text) und Wolf Erlbruch (Illustration): Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten
Ungeheure Schätze ...
von Olga Friesen (2006)
Die Frauen hängen Mäntel, Decken und Matratzen zum Lüften raus, auf den Zäunen hocken „dicke Kissen wie riesige, vielfarbige Katzen“, und die Kinder sind draußen. In den ersten Sonnenstrahlen vergessen sie die Not um sich herum: dass die Hälfte der Kinder keinen Vater hat, dass in einem Haus, wo früher eine Familie gelebt hat, nun fünf Familien zusammengedrängt sind. Es ist Frühling 1949 in Russland, und der Krieg liegt nur wenige Jahre zurück ...
Die Kinder spielen, aber nicht mit Genja, der komisch läuft und dessen Nase ständig verstopft ist. Sie beschimpfen ihn und schmeißen mit Dreckklumpen. Bis seine Mutter alle Hofkinder zu Genjas Geburtstag einlädt, und diese durch Zufall entdecken, dass er ein großer Meister der Papierkunst ist. Eine Begabung, die er selbst nur als „läppisches Talent“ ansieht, lässt Genja erstmals wahrnehmen, dass er kein bisschen schlechter als andere Hofkinder ist und dass auch er von ihnen bewundert werden kann ...
Mal traurig, mal glücklich sind alle sechs Kindergeschichten der 1943 in Sibirien geborenen und in Moskau lebenden Autorin. In Deutschland ist sie durch ihre Romane („Sonetschka“; „Die Lügen der Frauen“) bekannt geworden. In ihrem ersten Kinderbuch versteht es Ulitzkaja, die Atmosphäre der Geschichten in herrlicher Einfachheit zu umschreiben: „Die Linden mit ihrem jungen Laub wirkten wie frisch gestrichen, ja, sie rochen sogar ein wenig nach Ölfarbe“ („Der Flüster-Opa“) oder „Die Bäume waren noch ohne Laub, nur ein grüner Schimmer lag auf den Zweigen“ („Ein glücklicher Zufall“). Dieser weitgehende Verzicht auf ausführliche Darstellung der Umgebung und der Personen sowie die wenigen, sehr einfach gehaltenen rötlichen Zeichnungen von Wolf Erlbruch erlauben es dem Leser, eigene Wege in die Welt des Moskauer Hinterhofes und in das Leben seiner Bewohner zu finden.
„Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten“, so der Titel der deutschsprachigen Übersetzung, ist zwar gut gewählt, der Originaltitel „Kindheit neunundvierzig“ scheint jedoch eher geeignet, um die Not, die Armut und manches andere in den Geschichten besser nachvollziehen zu können. Und obwohl die Übersetzung sehr gut gelungen ist, verliert sie im Vergleich zum Original doch etwas der Ironie, mit der vom Treiben der Kinder erzählt wird. Daher muss man beim Lesen der russischen Geschichten eher schmunzeln, während es dem Leser der deutschen Übersetzung manchmal richtig zum Heulen sein kann.
Auch wenn jede Geschichte ein glückliches Ende hat, werden die Ereignisse realistisch dargestellt, und an keiner Stelle wird die Not verschwiegen: Die Kinder sind unterernährt, schlecht angezogen, manche verwaist, leben bei Verwandten, wo sie nicht willkommen sind, zusammengepfercht in viel zu kleinen Wohnungen…
Und doch ist hier genug Platz fürs Spielen, Lachen, Hoffen – fürs Kindsein!
Einige Geschichten enden mit dem glücklichen Zufall, andere erlauben einen Blick in die nahe oder ferne Zukunft der kleinen Protagonisten und zeigen, wie unvergesslich manche Ereignisse und Augenblicke der Kindheit sein können. Als ein gefaltetes Papierschiffchen oder eine alte Uhr einen ungeheuren Schatz bedeuteten und die liebste Beschäftigung das Wühlen in dem Trödelhaufen auf dem Dachboden sein konnte …