Fosse, Jon: Schwester
Die Welt will erkundet werden
von Anna-Maria Nienhaus und Maren Thomas (2006)
„Warum schimpft Mutter jetzt so, er hat doch nichts Böses getan, er hat nur den Fjord angeschaut und den Himmel und die Fadenwolke da oben am Himmel und die Grashalme da über sich“. Über das, was Erwachsene so alles verbieten, kann man sich schon wundern. Zumindest, wenn man ein vierjähriger Junge ist der die Welt erkunden will … Was spricht schon dagegen, sich an einem so wunderschönen Morgen im Schlafanzug ins hohe Gras zu legen? Was spricht dagegen, mit seiner kleinen Schwester durch den Wald zum Ufer hinunter zu spazieren? Und was spricht dagegen, alleine zum Fjord zu laufen und in das Ruderboot zu steigen?
Der Schauplatz von „Schwester“ ist Norwegen, das Heimatland des Autors Jon Fosse. Die Geschichte ist schlicht: Aus der Sicht des kleinen Protagonisten werden drei aufeinander folgende Tage geschildert, an denen er immer wieder – so sehen es die Erwachsenen – auf ‚dumme Gedanken’ kommt und „schlimme Sachen“ macht. Denn wenn man auf eigene Faust spazieren geht, kann man überfahren werden, und wenn man alleine zum Fjord hinuntergeht, kann man ins Wasser fallen und ertrinken. Die Ängste der Mutter stellt Fosse den Bedürfnissen des Kindes gegenüber, die Diskrepanz zwischen Kind- und Erwachsenensicht wirkt unüberwindbar. Elterliche Grenzsetzungen bleiben ebenso unverstanden wie alltägliche Missverständnisse: „und er hört seine Mutter sagen, jetzt wasche ich Dir die Haare und er überlegt, ob seine Haare oder die von seiner Schwester“. Zum Glück gibt es sie da noch, die jüngere Schwester, die das Leben mit den Erwachsenen zunächst leichter erscheinen lässt. In seiner Rolle als großer Bruder trägt er ihren Korb – „obwohl er nicht mit dem Körbchen rumlaufen“ will – und nimmt sie auf ihrem gemeinsamen Spaziergang an die Hand. So akzeptiert er ihre Bedürfnisse, doch für seine Gedanken ist sie noch zu jung. Vier Jahre und drei Jahre – der Altersunterschied der Geschwister ist klein, nicht jedoch aus der Sicht des Vierjährigen. Denn trotz gemeinsamer Unternehmungen ist er ihr in seiner Entwicklung auf dem Weg des Denkenlernens voraus und fühlt sich allein. Dass der Schwester eine besondere Bedeutung zukommt, verrät allein der Titel des Buches.
Wie Bandwürmer reihen sich die Gedanken des Jungen in scheinbar endlosen Sätzen aneinander. Verschiedene seiner Erlebnisse schildert er mehrmals, auch wenn die Wiederaufnahme oft nur mit wenigen neuen Einfällen versehen ist. Einzelne Worte gewinnen durch ihre stete Wiederholung an Bedeutung. Die Beobachtungen des Jungen sind präzise: Ausführlich wird die weitläufige Natur beschrieben, so dass man das hohe Gras fast riechen und die ans Ufer schwappenden Wellen fast hören kann. Auch auf den wenigen Bildern, die Aljoscha Blau der Erzählung beigefügt hat, nehmen die Naturdarstellungen viel Raum ein. Im Gegensatz zu dem strahlenden Blau des Himmels wirkt das Innere der Häuser düster und trist. Dies entspricht dem Gefühlsleben des Jungen, der nur an der frischen Luft seiner Lebensfreude Ausdruck verleihen kann. Doch als er, auch auf das ständige Schimpfen der Mutter hin, sein Verhalten nicht ändert, wird Hausarrest verhängt – die für den kleinen Jungen allerschlimmste Sanktion. Bei dem verzweifelten Versuch, nach draußen zu gelangen, haut er sich seine Hand blutig. „Jetzt hat er schon wieder etwas Schlimmes gemacht, jetzt darf er sich sicher überhaupt nicht mehr bewegen, denkt er“. Wird der Mutter jetzt bewusst, wie wichtig die Gedanken und der Freiheitsdrang eines Kindes sind?
In der Darstellung der Erfahrungswelt des kleinen Jungen erobert Fosse für das Kinderbuch völlig neue Ausdrucksformen: Diese folgen den kindlichen Impulsen, sind punktuell, szenisch und eben noch nicht in einen eindeutigen Kontext gebettet. Dadurch wird die Kindersicht auf die Welt so authentisch vergegenwärtigt, dass erwachsenen Leserinnen und Lesern bewusst werden kann, wie weit sie sich von der Weltwahrnehmung und Denkweise der Kleinen entfernt haben. Gleichermaßen bestätigt es Kindern, wie kompliziert das Älterwerden ist und wie schwer es sein kann, die Gedanken der Erwachsenen nachzuvollziehen.
Dass diese Doppeladressierung wirklich ‚funktioniert’, mag man zunächst bezweifeln und sich fragen, ob es sich bei „Schwester“ nicht nur um ‚Kindheitsliteratur’ für Erwachsene handelt. Dies nicht zuletzt wegen der fast abstandslosen Darstellung des Gefühlserlebens eines Kindes in unendlich langen Sätzen. Unsere ersten Vorleseerfahrungen bestätigen diese Befürchtung jedoch nicht. Kleine Kinder waren fasziniert von der Geschichte! Daher empfehlen wir das Buch eher zum Vorlesen für jüngere als zum Selbstlesen für ältere Kinder (ab neun Jahre), wie der Verlag es vorschlägt. Die Auszeichnung durch das Norwegische Kulturministerium als bestes Kinderbuch des Jahres erscheint uns gerade unter dieser Prämisse wohlbegründet. Als Vorlesebuch ist „Schwester“ nicht nur bemerkenswerte Kindheits-, sondern auch innovative Kinderliteratur.