Moeyaert, Bart (Text) und Wolf Erlbruch (Illustration): Olek schoß einen Bären
„Hier ist Olek“, sagte Olek
von Janine Krautheim und Christian Schulz (2006)
Für Olek ist es eine Mannestat, die er am Morgen vollbracht hat. Er hat einen Bären erlegt und sich selbst aus dem Pelz eine trophäengleiche Mütze gefertigt. Und als sei dies eine bestandene Reifeprüfung gewesen, die ihn gleich zu weiteren guten Taten verpflichtet, macht er sich nun beherzt und selbstsicher auf in die Welt. Er trägt die Nase weit weg vom Boden, mit den Händen schiebt er den Gegenwind zur Seite, und die Möglichkeiten, die Welt zu verändern, lassen nicht lange auf sich warten. So kann er bald einem kleinen Jungen helfen, die Schnürsenkel zu binden, einem Mädchen den durchlöcherten Eimer dichten und ein Kaninchen aus der Falle befreien. Auch wenn diese Dinge dem jagderfahrenen Olek vergleichsweise „lächerlich einfach“ erscheinen, nimmt er alles mit einem überzeugten „Hier ist Olek, ich tue was ich kann“ in Angriff.
„Olek schoss einen Bären und nähte sich aus dem Pelz eine Mütze“ ist gleichzeitig Titel wie einleitender Satz des Märchens, das uns der flämische Kinder- und Jugendbuchautor Bart Moeyaert erzählt. Typische Formmerkmale des Märchens finden sich häufig in seinem Text, aber immer wieder durchläuft Moeyaert sie durch Ironie. So regen beispielsweise Oleks ‚heroische’ Taten zum Schmunzeln an und heben das herkömmliche Bild vom Märchenhelden auf.
Im weiteren Verlauf der Geschichte will Olek einem vermeintlich verletzten Vogel in einem Baum helfen. Dieser schenkt ihm zum Dank – oder ist es eher die Sorge um Olek? – eine seiner roten Federn und fliegt plötzlich davon. Olek stürzt erschrocken vom Baum und verliert die Besinnung. Als er wieder erwacht, sieht er sich umringt von zwölf Mädchen, die sich merkwürdig verhalten. Bald erkennt er, dass er sich im Vorhof der Hölle befindet und tritt dem Teufel entschlossen entgegen. Doch nur mit Hilfe des Feuervogels, den er mit der Feder herbeiruft, gelingt es ihm, den Belzebub zu bezwingen, die Mädchen so aus dessen Bann zu befreien und eines davon für sich zu gewinnen ...
Dem für ein Bilderbuch relativ langen Text wird durch eine prägnante Typografie ein besonderer Stellenwert in der großformatigen, modernen Layoutkomposition eingeräumt. Doch ein Großteil jeder Doppelseite gehört Wolf Erlbruchs kongenialen Illustrationen. Sie greifen in ihrer Formensprache den archaisierenden Duktus des Märchens auf. Viele der einfachen, reduzierten Bilder sind auf naturbraunem Packpapier entstanden. Den Figuren verleiht der Künstler über die mit Kreide gezogenen Konturen Gestalt. Die wenigen monochromatischen Farbakzente werden durch farbigen Karton in Rot, Blau, Schwarz oder Gelb collageartig gesetzt. So dominiert Oleks rotes Gesicht die meisten Bilder; ansonsten wird er nur durch die Fellmütze farbig ausgestaltet. Erlbruch gibt den Figuren eine märchentypische Flächenhaftigkeit. Sie sind schemenhaft charakterisiert und der Wirklichkeit entrückt; Emotionen werden kaum bildhaft deutlich gemacht, sondern müssen über Handlungen erschlossen werden.
Olek ist der Simpel, der sich in kindlicher Selbstüberschätzung waghalsig in die Gefahr stürzt und den Kampf mit dem Teufel annimmt. Dieser wird aber von Anfang an als besiegbarer Charakter gezeigt: Das durch den monströsen Kopf gestörte Gleichgewicht muss durch einen fahrbaren Untersatz aufgefangen werden; magere Ärmchen und ein dünner Dreizack wirken kaum bedrohlich. Erlbruch weiß auch Moeyaerts spitzbübische Ironie zu verbildlichen.
Das Bilderbuch lässt Deutungen auf verschiedenen Ebenen zu. Sei es die Moral des Märchens von einem einfachen, naiven Jungen, der für seine mutige Eigeninitiative belohnt wird, sei es die psychologische Ebene, auf der Olek depressive Erstarrung mit seiner überwältigenden Lebenskraft durchbricht, um sich dadurch auch selber eine neue Welt zu erschließen. Symbolhaftigkeit von Text und Bild stehen in Symbiose. Der Abstraktionsgrad der Illustrationen lässt Spielraum zur Interpretation, ihre skurrile, ausdrucksstarke Gestaltung bieten eine auch für Erwachsene ansprechende Ästhetik. Bei den Jüngsten der Zielgruppe ist sicher ein gewissenhaftes Vorlesen gefordert; der Text ist trotz der reichen Bebilderung recht komplex. Doch Moeyaert und Erlbruch gelingt ein für alle Altersgruppen phantasievolles wie auch phantasieanregendes Märchen-Bilderbuch. Jeder mag seine eigene Lesart dafür entdecken und schließlich wie Olek feststellen: "Es kann immer etwas passieren wodurch sich alles ändert.“