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Titelbild
Ramsay, Paulette:
Alles Liebe, deine Sunshine
Eine Erzählung in Briefen aus Jamaika
Aus dem jamaikanischen Englisch von Christine Holliger
Zürich: Atlantis 2005
127 S., € 12,90

Ramsay, Paulette: Alles Liebe, deine Sunshine

P.S.: Um Antwort wird gebeten

von Sina Bottke und Eva Heckelsberg (2006)

„Manchmal denke ich, dass eine Mutter nicht nur die Frau ist, die einen zur Welt bringt, sondern jemand, mit dem man wichtige Erinnerungen verknüpft“. Doch Sunshine kennt ihre Mutter nicht. Das Mädchen lebt auf Jamaika bei ihren Großeltern „Ma“ und „Gramps“. Sie hat „Tante Jen“, wie Sunshines Mutter von allen – und auch von ihr selbst – genannt wird, zuletzt gesehen, als sie drei Jahre alt war. Wie viele andere Jamaikaner wanderte die junge Frau nach England aus, um „ihr Glück zu finden“ und ließ ihr Kind bei den Großeltern zurück.

Mit elf Jahren beginnt Sunshine, Briefe an ihre Mutter zu schreiben, in denen sie nicht nur von ihrem Alltag auf Jamaika, sondern auch von ihren Gedanken, Träumen und Gefühlen erzählt. Sie versucht, Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen und mehr über deren Leben herauszufinden – mehr, als ihre Großmutter über „Tante Jen“ zu berichten weiß. Sehnlichst wünscht sie sich ein Foto, um zu sehen, ob sie Ähnlichkeit miteinander haben. Doch sie wartet vergeblich … Immer wieder geht sie zur Post, immer wieder kehrt sie mit leeren Händen zurück. Die einzige Reaktion bleibt für lange Zeit eine Postkarte mit der Aufschrift: „Ich denke an dich. Deine dich liebende Mutter“. Das ersehnte Bild von „Tante Jen“ erhält Sunshine erst vier Jahre und unzählige Briefe später.

Von den Versuchen, ihre Mutter nach Jamaika zu locken, erfährt der Leser ausschließlich aus Sunshines Briefen, die – in verschiedenen Versionen – die Geschichte des Mädchens erzählen. Welche Briefe von Sunshine tatsächlich abgeschickt wurden, und welche sie wegen einer zu forschen und anklagenden Sprache zurückhielt, kann man nur erahnen. Doch erhält man beim Lesen der Briefe einen ungeschminkten Einblick in die Gedanken und Gefühle des Kindes. Man hofft und wartet gemeinsam mit ihr auf eine Antwort und entwickelt mit jedem weiterem – geschriebenem bzw. ausbleibendem – Brief immer stärkere Gefühle des Unverständnisses, der Wut und Anklage. Im Laufe des Geschehens, vor allem jedoch durch den schmerzlichen Tod ihrer Großeltern, gewinnt Sunshine an Stärke, Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit. Als ihre Mutter dann endlich antwortet, reagiert die Tochter mit Ablehnung. „Du bist meine Mutter, aber Ma war meine Mama – meine richtige und einzige Mama, und es wird nie eine andere Mama für mich geben“.

Die Briefesammlung wird von einem zwanzig Jahre später verfassten Brief von Sunchines Tochter April an ihre „Großmutter Jen“ beschlossen. Aus ihm geht hervor, dass Sunshines Mutter das Erbe der toten Großeltern angefochten und sich den Anteil ihrer Tochter angeeignet hat. Aus ihm geht aber auch hervor, dass Sunshine ihr Leben gemeistert hat, dass sie Ingenieurin geworden ist und geheiratet hat. Die Hoffnung der Enkelin, Kontakt zu ihrer Großmutter herzustellen, wird von Sunshine am Ende des Buches mit einer jamaikanischen Redewendung kommentiert: „jedem Esel sein Lied“.

In ihrem Briefroman „Alles Liebe, deine Sunshine“ gibt die Autorin Paulette Ramsey nicht nur Einblick in eine individuelle Problematik, sondern auch in wichtige Aspekte des von Politik, Religionen und traditionellen Bräuchen geprägten jamaikanischen Generations- und Kulturkonfliktes der 1970er Jahre. Die Erzählung enthält viele unbekannte jamaikanische Redewendungen und Begriffe, die man in einem Stichwortregister im Anhang nachschlagen kann. Diesem folgt ein komplexes Nachwort der auf Jamaika geborenen Autorin, deren Mutter in den 1950er Jahren ebenfalls nach England emigrierte. Der Reiz des Romans liegt in dem Einblick in die fremde jamaikanische Kultur und in der Möglichkeit, an Sunshines Wünschen, Ängsten, Hoffnungen und der letztendlichen Loslösung von ihrer Mutter teilzunehmen. Dennoch stellt das Buch starke Ansprüche an die Lesemotivation, da sich nach spannendem Beginn die quälende Erwartungshaltung auch auf den Leser überträgt und – wie von der unermüdlich schreibenden Sunshine auch von ihm – ein hohes Maß an Durchhaltevermögen gefordert wird.

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