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Sachar, Louis:
Kleine Schritte
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Berlin: Bloomsbury 2006
254 S.
€ 14,90
Übergangsbuch ab 12 J.

Sachar, Louis: Kleine Schritte

Fast Food

von Thomas Mayerhofer (2006)

Deo versucht es wirklich. Jetzt, wo er aus der Jugendbesserungsanstalt entlassen ist, will er einfach nur ein anständiges Leben führen. Und er ist auf dem besten Weg dazu, besucht wieder die Schule, hat einen Job und hält sich aus allem Ärger raus. Doch dann kommt sein alter Kumpel X-Ray vorbei und bittet Deo, der eigentlich Theodore heißt, um Geld für eine todsichere Geschäftsidee: Kaira DeLeon, das neue Sternchen am Pop-Himmel kommt in die Stadt, und sicher lässt sich mit dem Verkauf von Konzertkarten auf dem Schwarzmarkt viel Geld verdienen ... Und damit fangen die Turbulenzen an: Zunächst ist es schwieriger als gedacht, die Karten wieder loszuwerden. Doch damit nicht genug: Als Deo mit seiner kleinen Freundin, dem leicht behinderten Nachbarskind Ginny, zum Konzert geht, gerät er in eine brenzlige Situation. Zum Glück hilft Kaira DeLeon selbst ihm dort aus der Patsche, und so begegnet Deo seiner ersten großen Liebe – was wiederum neue Turbulenzen mit sich bringt.

Ist Louis Sachars „Kleine Schritte“ ein ,modernes Märchen‘? Wenn damit eine Aussage allein über den Realismus der Geschichte gemacht werden soll, mag das angehen. Ansonsten könnte man vielleicht eher noch von einer Soap, einer Art ,Lesenovela‘ sprechen. Der Underdog mit Herz, das erfolgreiche, aber einsame Starlet, die taffe Bürgermeisterin, der Erzfiesling in Gestalt eines gierigen Managers – es ist alles vorhanden, was man zur Unterhaltung eines breiteren Publikums braucht. Die Atmosphäre des Buches mutet insgesamt sehr ,amerikanisch‘ an, wozu Sätze wie „Für mich ist ein Mann jemand, der mutig genug ist, zu lieben und sich lieben zu lassen“,aber nicht zuletzt auch die vielen indirekten Filmzitate beitragen: ‚Forrest Gump’, ‚American Beauty’, ‚Bodyguard’ – eine ganze Reihe oscarprämierter Hollywood-Streifen stand offenbar Pate für Sachars Roman. Kritiker mögen ihm vorwerfen, mit ‚Kleine Schritte’ literarisch nur auf ausgetretenen Pfaden zu wandeln. Sein Publikum hingegen wird das wohl kaum stören. Unangenehm auffallen dürften dem Leser schon eher Werner Löcher-Lawrences Übersetzungen von Kaira DeLeons Songtexten, die im Buch jeweils nacheinander in Englisch und Deutsch abgedruckt sind. Nun sind ihre Lyrics, die immer wieder den Erzählfluss unterbrechen und denen eine ähnliche Funktion zufällt wie dem Chor im antiken Drama – mal scheinen sie die Handlung zu kommentieren, mal nehmen sie sie vorweg – schon im Englischen nicht mit Poe oder Whitman zu verwechseln. Insgesamt aber liest sich ‚Kleine Schritte’ mühelos, unterhaltsam und flott. Viele Dialoge sind humorvoll, manchmal sogar geistreich, und einige Nebenfiguren entfalten einen ganz eigenen Charme, vor allem die kleine Ginny. Als sie Deo ihre Stofftiere zeigt, stellt sich bald heraus, dass jeder ihrer Lieblinge eine Behinderung hat, genau wie Ginny selbst. Deo fragt schließlich, was dem Hasen Coo fehlt und Ginny antwortet mit erwachsenem Ernst: „Coo hat L-Leukämie […]. Aber wir sprechen nicht darüber.“

Wer will, kann auch einige aktuelle Bezüge zwischen den Zeilen herauslesen, beispielsweise das hinter den Auktionen des online-Marktplatzes e-bay stehende wirtschaftspsychologische Prinzip – und dessen eventuelle Gefahren. Deos Wirtschaftslehrer Mr. Warren (anscheinend ein alter ego des Autors, der selbst Wirtschaft studiert hat) demonstriert in seiner Klasse die Dynamik einer Auktion, indem er selbst einen Zehn-Dollar-Schein zum Mindestgebot von fünfzig Cent versteigert. Schnell steht das Gebot bei 9,99 und schließlich bei zehn Dollar. Er habe bei dem gleichen Experiment sogar schon einmal 10 Dollar und zehn Cent erzielt, berichtet Mr. Warren.

Noch hintergründiger nimmt eine andere Begebenheit aus dem Buch Bezug auf aktuelle Tendenzen der amerikanischen Gesellschaft: Wegen des Schwarzhandels von der Polizei verhört, behauptet X-Ray dreist, ein bärtiger Turban-Träger namens Habib sei der Drahtzieher der illegalen Geschäfte – ein Fingerzeig auf die amerikanische Paranoia, die (hier auf die Spitze getrieben) hinter jedem Kleinkriminellen radikale Islamisten vermutet.

Im Kontrast zu derart scharfsinnigen Beobachtungen und Zuspitzungen stehen wiederum Szenen, die durch ungewollte Realitätsferne hervorstechen, wie vor allem die Schilderung des Kaira-DeLeon-Konzerts, das einen ersten Höhepunkt der Geschichte bilden soll. Als ekstatisches Rock-Erlebnis angekündigt, enttäuscht der Event durch unglaubliche Biederkeit. Auf dem Gipfel der Begeisterung erhebt sich das Publikum gerade mal von seinen nummerierten Sitzplätzen: „Deo und Ginny sahen einander an und standen auf. Das war jetzt ihr Lied. Sie blieben stehen, bis es zu Ende war.“

Alles in allem ist „Kleine Schritte“ eine durchaus sympathische Geschichte mit Witz und einigen originellen Einfällen. Wer jedoch mehr als nur ein paar kurzweilige Stunden mit schnellem Lesefutter sucht, oder wem die manchmal unerträgliche Seichtigkeit des Scheins amerikanischer Prägung schnell zu viel wird, der sollte lieber gleich zu einem anderen Buch greifen – oder die Lektüre auf Seite 13 beenden, wo Sachar bereits eine seiner moralischen Kernaussagen untergebracht hat: „Du solltest dich nicht dafür schämen, wer du bist.“