Schneider, Karla: Die Geschwister Apraksin
Die „Kaufmannsbrut“ und die Revolution
von Olga Friesen (2006)
Eine Welt geht unter und mit ihr alles Geliebte und Bekannte. Zum letzen Mal gehen die fünf Kinder des Kaufmanns Apraksin durch ihr Haus: „zwei jüngere Buben mit zu langen Haaren und kurzen Hosen, ein noch kleineres Mädchen im Matrosenmantel, ein größeres Mädchen in Schülerkleidung, mit offenem Haar und Ponyfransen, und ein fast schon erwachsenes Mädchen“. Zimmer für Zimmer nehmen sie Abschied von ihrem Heim und von ihrem bisherigen Leben. Zurückgelassen werden Bücher, Spielsachen und Erinnerungen: an die früh verstorbene Mutter, an den von einer Geschäftsreise nicht zurückgekehrten Vater, an die alte Njanja, die nichts für ihre Zöglinge tun kann, als ihnen die nötigsten Sachen für die bevorstehende Flucht einzupacken. Hier bleiben können sie nicht. Das Haus gehört jetzt der sowjetischen Regierung, die die Kinder trennen und in berüchtigte Kinderheime stecken will. Und so verlassen Klascha, Polly, Fedja, Ossja und Dillotschka in der Nacht ihr Elternhaus und begeben sich auf eine Flucht, deren Ablauf und Ziel ihnen unbekannt sind.
Es ist das Jahr 1918 in Russland. Nach der Abdankung des Zaren und dem Scheitern der provisorischen Regierung gelingt es den Bolschewiken unter Lenins Führung im Oktober 1917, die Macht gewaltsam an sich zu reißen. Es folgen Enteignung, Verfolgung und Ermordung der Angehörigen adeliger und bürgerlicher Schichten. Zwischen den Verteidigern der neuen Machthaber (den Roten) und den von der Entente unterstützten Anhängern der gestürzten Regierungen (den Weißen) entbrennt ein erbitterter Bürgerkrieg, unter dem auch die Zivilbevölkerung zu leiden hat. Dies ist der historische Hintergrund der Geschichte der „unfreiwilligen Reise“ der zwischen fünfzehn und fünf Jahre alten Geschwister Apraksin, die Karla Schneider erzählt.
Die Kinder schließen sich einer reisenden Schauspielertruppe an, bei der Klascha ein Engagement als Klavierspielerin gefunden hat. Wochenlang dauert die schleichende Zugfahrt in einem Abteil voll mit demobilisierten Soldaten, die bei jedem Halt des Zuges umliegende Dörfer plündern. In Rostow am Don versucht die Schauspieltruppe einen Auftritt zu organisieren, während Polly und ihre Brüder einen Schuhmacherkarren durch die verschneiten Strassen ziehen, um Geld zu verdienen fürs Essen und für warme Kleidung. Doch das am meisten Befürchtete tritt ein – zwei der Geschwister gehen verloren: die kranke Dillotschka verschwindet spurlos aus dem Krankenhaus, und Klascha läuft mit ihrem Schwarm, dem Tenor der Truppe, weg. Die verbliebenen Apraksins ziehen weiter. Ihr Weg führt sie übers Meer auf die Krim und schließlich über Hunderte von Kilometern nach Moskau, wo die letzte lebende Verwandte, eine Halbschwester ihrer Mutter, leben soll.
Über knapp 600 Seiten gelingt es der 1938 in Dresden geborenen Autorin, die Spannung aufrecht zu erhalten. Durch die detaillierten Beschreibungen der Personen, der Orte und Geschehnisse, die auf eine sorgfältige Recherchearbeit hinweisen, entsteht eine Atmosphäre des Zerfalls und des Aufbruchs, die bis zur letzten Seite durchgehalten wird. Allerdings ist die Darstellung mancher Charaktere doch allzu einseitig – mitunter sogar klischeehaft – ausgefallen: Vor allem werden die Gegner der neuen Machthaber ausnahmslos als gut dargestellt, während die Anhänger der Roten durchgehend böse sind. Es ist zwar verständlich, dass die bedrohten Kinder wahrscheinlich nur diese Sicht auf die Welt haben können, es entsteht jedoch der Eindruck, als sei die Revolution nur eine Laune barbarischer Volksmassen gewesen. Dass sie auch eine Verzweiflungstat des infolge des Ersten Weltkrieges seit Jahren hungernden und in Elend lebenden Volkes war, wird leider nicht deutlich.
Dem Roman ist ein Glossar, das bei schwierigen Fachbegriffen und russischen Wörtern helfen soll, und eine vier Seiten lange Auflistung aller vorkommenden Personen hinzugefügt. Viele Begriffe bleiben allerdings ungeklärt, und die Liste schreckt eher ab, da man das Gefühl hat, sich niemals hindurch zu finden. Diese beiden Aspekte sowie die Komplexität der Handlung und die Länge des Romans machen seine Eignung für Kinder eher problematisch. Sollte er an Jugendliche adressiert sein, so wünschte man sich doch eine deutlich differenziertere Darstellung dieses Abschnittes russischer Geschichte.
Dennoch muss die Leistung der Autorin hervorgehoben werden: Auf eine auch für Kinder verständliche, Interesse weckende Weise ein Thema zu bearbeiten, das in der westlichen Kinder- und Jugendliteratur bis heute kaum behandelt wurde, ist ihr weitgehend gelungen.
Am Ende des Romans scheint eine Wiedervereinigung der Geschwister möglich zu sein. In Moskau, der neuen Hauptstadt, begegnet Polly ihren verlorenen Schwestern: Dillotschka, die nun Sina heißt und neue Eltern hat, und Klascha, die zusammen mit einer Künstlergruppe die Strassen zum bevorstehenden Mai-Feiertag schmückt ...
Das offene Ende mag für manchen Leser etwas abrupt und nach Hunderten von Seiten auch etwas frustrierend sein. Aber so ergibt sich vielleicht die Möglichkeit einer Fortsetzung ...