Guillou, Jan: Evil - Das Böse
The Evil That Men Do
von Stefanie Coslar und Stephan Leupold (2006)
Er sei „das personifizierte Böse“ und als solches müsse er „vernichtet werden“, lautet das Urteil des Direktors, als er Erik von der Schule verweist. Er werde außerdem persönlich dafür sorgen, dass Erik trotz seiner überdurchschnittlichen Leistungen der Weg zum Abitur verwehrt bleibe. Was ihm fehle, sei eine gehörige Tracht Prügel. Das „personifizierte Böse“ ist vierzehn Jahre alt, Anführer einer brutalen und kriminellen Jugendbande und Opfer seines mit sadistischer Freude prügelnden Vaters. Dieser bringt täglich verschiedene, ‚liebevoll’ ausgewählte Utensilien zur Anwendung. Die Kleiderbürste bedeutet ein „mildes Urteil“, die Hundepeitsche hingegen hinterlässt „Wunden mit länglichen dauerhaften Krusten“. Eriks Mutter, bis dato hilf- und tatenlos, ergreift nach seinem Schulverweis erstmalig die Initiative, und ermöglicht ihrem Sohn den Besuch des Eliteinternates Stjärnsberg. Erik ist fest entschlossen, diese letzte Chance zu nutzen. Er will versuchen, die Gewalt ein für alle Mal hinter sich zu lassen.
Gewalt und Legitimation von Gewalt sind die zentralen Themen in Jan Guillous Roman „Evil - Das Böse“. Es geht nicht um böse Menschen, sondern um das Böse, zu dem Menschen unter bestimmten Umständen fähig sind. Eigentlich eine klare Sache. Gewalt ist doch schließlich keine Lösung und in jedem Fall zu verurteilen. Oder?
Kaum in Stjärnsberg angekommen, scheint Eriks Vorsatz jedoch schon zum Scheitern verurteilt, denn dort herrscht das Prinzip der „Kameradenerziehung“. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich ein System, welches älteren Schülern unter der Führung des „Rates“ erlaubt, die Jüngeren zwecks „Erziehung“ zu terrorisieren und zu erniedrigen. Wer dagegen aufbegehrt, wird gebrochen, wer sich wehrt, fliegt von der Schule. Die „Kameradenerziehung“ ist in Stjärnsberg Tradition, sie wird von den Lehrern nicht nur toleriert, sondern sogar unterstützt. „In jedem Fall hält man sich lieber bedeckt“ und versucht, sich mit dem System bestmöglich zu arrangieren, rät Pierre, Eriks belesener Zimmergenosse, der schon bald zum guten und einzigen Freund wird.
Erik beschließt jedoch, sich nicht demütigen zu lassen, sondern das System zu boykottieren und die damit verbundenen Strafen auf sich zu nehmen. Es gelingt ihm, sich ein wenig Respekt zu verschaffen, als er von zwei älteren Schülern herausgefordert wird. Da der Ausgang des Kampfes klar scheint, erlaubt man ihm, sich zu wehren. Ein schwerer Fehler, den seine Gegner spätestens im Krankenhaus bereuen.
Gibt es eigentlich eine moralische Verpflichtung, Böses zu bekämpfen, oder ist es akzeptabel zu schweigen, um die eigene Haut zu retten? Kann man Gewalt mit Gewalt aus der Welt schaffen? Diese Fragen stellen sich Erik und Pierre, abends im Bett führen sie lange Diskussionen. Selbstkritisch reflektieren sie ihr Verhalten und versuchen so, den richtigen Weg zu finden: Pierre zitiert Gandhi, Erik seinen Vater.
Von Eriks Erfolg ermutigt, schließen sich Pierre und einige weitere Schüler seinem Widerstand an. Doch Widerstand muss eliminiert werden. Da Erik mit Gewalt nicht zu brechen ist, hält sich der Rat bald darauf an Pierre. Dieser kann dem Terror nicht standhalten und verlässt Stjärnsberg. Erik verliert auf diese Weise seinen einzigen Freund und wirft letztendlich auch alle guten Vorsätze über Bord. Es gelingt ihm, seine Rache unerkannt auszuführen, er ist aber wieder im alten Teufelskreis aus Gewalt, Hass und Gegengewalt gefangen. Bis zu seinem Abschluss bricht er noch so manches Nasenbein und schlägt noch einigen Oberstufenschülern die Zähne aus. Und zuhause wartet zum großen Finale bereits sein Vater ...
Schockierend wirken nicht nur die detaillierten, emotionslosen Beschreibungen von Gewaltanwendungen, sondern auch die Tatsache, dass sie von Schülern ausgeführt werden, die davon überzeugt sind, das Richtige zu tun. Erik bekommt eine Zigarette auf der Brust ausgedrückt, wird zusammengeschlagen, obwohl er sich nicht wehrt. Im Winter wird er an vier Stangen gefesselt, die er zuvor selbst in den gefrorenen Boden schlagen musste, mit heißem und kaltem Wasser übergossen und über Nacht liegengelassen. Er selbst schlägt kaltblütig, planvoll und zweckorientiert zurück.
Der Autor erklärt durch seinen Roman nachvollziehbar, wie Gewalt entsteht und aus Opfern Täter werden. Aber er zieht seine Leser auch in das Geschehen hinein, und selbst ein pazifistisch eingestellter Leser könnte sich dabei ertappen, sehnsüchtig darauf zu warten, dass Erik endlich zurückschlägt und den Ratsmitgliedern alle Knochen bricht. So ist man ständig gezwungen, seine eigenen moralischen Überzeugungen zu überdenken.
„Evil“ beruht im Wesentlichen auf Erlebnissen des Autors. Im Roman beschließt Erik, Rechtsanwalt zu werden, um das brutale System zu beenden, muss jedoch feststellen, dass das Recht zwar auf seiner Seite ist, ihm jedoch nicht den Schutz bietet, den er benötigt. Jan Guillou ist nicht Rechtsanwalt geworden, sondern Journalist und Autor: „Mit Skandaljournalismus erreicht man mehr.“ Das Internat hieß in Wirklichkeit ‚Solbacka’ und wurde in Folge der Veröffentlichung des Buches und einiger von Jan Guillou verfasster Zeitungsartikel in den 1970er Jahren geschlossen. Mittlerweile ist „Evil“ in Schweden Pflichtlektüre an Schulen, und die Verfilmung wurde 2004 für den Oskar nominiert.