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Schomburg, Jan:
Das Licht und die Geräusche. Roman
München: dtv 2017
221 Seiten
€ 20,00
E-Book: € 15,99
Junge Erwachsene

Schomburg, Jan: Das Licht und die Geräusche

Kann, muss, soll man immer alles verstehen?

von Anna-Lena Mertsch (2017)


Johanna versteht in letzter Zeit weder sich selbst und ihre Handlungen noch die ihrer Mitschüler*innen und Freund*innen. Gelegentlich entscheidet sie sich für Dinge, die ihr hinterher als recht dämlich erscheinen, wie zum Beispiel, dass sie dem „Garagenmann“ in seine Wohnung gefolgt sind, nachdem dieser sie, Boris und dessen portugiesische Freundin Ana-Clara beim Trampen aufgesammelt hatte. Johanna wundert sich über Gedanken und Äußerungen, die ihr im Kopf geblieben sind, und fragt sich immer wieder, wieso Boris und sie sich noch nicht geküsst haben, wo sie doch damals, in Norwegen im Zelt, die Gesichter nur zwei maximal drei cm voneinander entfernt gehabt haben. Johanna versteht außerdem nicht, wieso Timo in Barcelona auf Klassenreise von Marcel wie ein Sklave behandelt worden ist. Sie wusste, dass Timo ein Außenseiter ist, versteht aber auch da nicht, weshalb das so hat sein müssen. Ana-Clara ist Johanna ebenfalls ein Rätsel, und Johanna entscheidet für sich, dass Boris Ana-Clara nur weiter lieben kann, wenn auch Johanna etwas Liebenswürdiges an ihr findet. Als Boris dann auch noch lachend in eine Schlägerei läuft, versteht Johanna gar nichts mehr.

Jan Schomburg, geboren 1976 in Aachen und bisher bekannt als Filmregisseur und Drehbuchautor, hat sich mit seinem Debütroman „Das Licht und die Geräusche“ in neue Gewässer gewagt. Sein Roman entführt die Leser*innen in Johannas verwirrende Welt: Ihre Gedanken sind genauso springend wie wohl bei fast jeder Jugendlichen, die gerade die Welt neu kennenlernen muss, weil ‚Kind sein‘ nicht mehr reicht. Durch die dem Bewusstseinstrom nahe, assoziative Präsentation von Johannas Gedanken sowie die aufgebrochene Zeitstruktur der Erzählung nimmt man als Leser*in die innere Unruhe der Protagonistin selbst wahr und ist so immer ganz nah dran an Johanna. Es gelingt dem Autor, seinen Roman durch die Wahl der Ich-Perspektive sehr authentisch wirken zu lassen, und auch wenn es anfangs schwierig ist, den Gedankengängen stetig zu folgen, so wird man doch im Laufe des Buches gepackt und möchte es am liebsten in einem Zug durchlesen.

Nach einer Party kommen sich Johanna und Boris erneut näher und verbringen eine gemeinsame Nacht am See, doch nach dieser Nacht scheint Boris spurlos verschwunden zu sein. Johanna vermutet, dass Boris sich suizidieren möchte, denn in einem Brief, den er Johanna schickt, erwähnt er, dass er kein Licht mehr sehe, keine Geräusche mehr höre. Diese Bemerkung kann nur für Johanna verständlich sein: Als Boris sie auf der Party gefragt hat, weshalb es sich zu Leben lohnt, ist ihre Antwort schlicht „Das Licht und die Geräusche“ gewesen, was schon damals für Boris keine auszureichende Antwort gewesen ist.

Schomburg gelingt mit dem Wechsel von bisher unbesorgten, neugierigen und freien Gedanken zu beängstigten, besorgten und fiebrigen eine spürbare Veränderung in der Stimmung des Romans. Johannas Gedanken, die bisher sehr weitfächerig umhergesprungen sind, konzentrieren sich nun einzig und allein auf das Wohlsein ihres Freundes und dem Bedürfnis, ihn wohlauf wiederzufinden. Sie reist mit Boris‘ Eltern und Ana-Clara nach Island, wo sie Boris vermuten, da die Briefmarke auf seinem Brief aus Island stammt. Sollte man glauben, dass Johanna nun all ihre Antworten erhält, so liegt man falsch. Auch während der intensiven Suche nach Boris geschehen Dinge, die Johanna niemals für möglich gehalten hätte: So kommen sie und Ana-Clara sich auf einmal auf eine ganz andere, neue Art sehr viel näher als jemals erwartet. Durch Boris‘ Fehlen besteht zwar keine direkte Verbindung mehr zwischen den beiden Mädchen, doch vielleicht ist es grade das Verschwinden dieses offensichtlichen Bindegliedes, was dazu führt, dass sie sich auf ihre eigene Art und Weise neu kennenlernen. Boris ist am Ende vor allen anderen wieder zurück in Deutschland, und auch der lang ersehnte Kuss zwischen ihm und Johanna findet endlich statt – doch auch dieser hinterlässt mehr Fragen als Antworten. Aber das findet Johanna nun überhaupt nicht (mehr) schlimm.

Jan Schomburgs Geschichte ist keine alltägliche Coming-of-Age-Erzählung und behandelt doch so viele Themen, die für diese typisch sind – Liebe, Verlust, Verwirrung, Angst etc. Schomburg zwingt die Leser*innen nahezu, sich dem Fluss der Geschichte widerstandslos hinzugeben, damit man die Übersicht nicht verliert. Genau diese Wahl der Erzählart und -weise bestärkt, wie gut der Autor zu verstehen weiß, wie man Nähe zu einer Figur in einem Roman aufbauen kann. Im Laufe der Erzählung spürt man Johannas Verwirrung und ihre innere Dringlichkeit, Antworten finden zu wollen. Doch am Ende ist die einzige vollkommene Antwort, die Johanna findet, die, dass man nicht immer alles verstehen kann, und dass das auch manchmal okay so ist.

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