Herrick, Steven: Wir beide wussten, es war was passiert
Mehr als ein simples Geschenk
Evelyn Bernhardt und Laura Bove (2017)
Der sechzehnjährige Billy flieht vor der Wut seines Vaters, der Belanglosigkeit seiner Schule und der Trostlosigkeit seiner Heimatstadt. Dafür nimmt er auch das Zurücklassen seines Hundes in Kauf: „[M]it einem Hund/nimmt einen niemand mit./Und zwei Mäuler stopfen/ist eines zu viel.“ Er flieht auf einem Güterzug und landet schließlich in Bendarat. Für seine erste Nacht sucht Billy im Güterbahnhof Obdach und richtet sich in einem stillgelegten Waggon sein „Bendarat Motel“ ein. Um seinen Hunger zu stillen, wartet er in einem Schnellrestaurant auf die Essensreste der anderen Gäste und erblickt dabei Caitlin: „[A]ls ich sah, wie sie schaute,/als ich nach dem Essen griff, war mein erster Impuls, sie zu hassen/wegen der glänzenden Uhr/und ihrer perfekten Haut/[…]/doch sie lächelte bloß/und beklagte sich übers Wischen,/als wenn man uns beide/bei etwas erwischt hätte,/das wir nicht wollten,/aber tun mussten.“
Es ist aber nicht nur die Geschichte dieser jungen Liebe, über die der Autor Steven Herrick schreibt, sondern auch die einer prägenden Freundschaft zwischen Billy und Old Bill. Sie lernen sich in der Morgendämmerung kennen, als Old Bill seine volle Flasche Bier kaputt geht, die er sich gekauft hat, um seinen Geburtstag zu feiern. Billy schenkt ihm zum Trost die Zigaretten, die er seinem Vater geklaut hat, um diesen zu verärgern. Und so sitzen sie gemeinsam da, „starren auf das Bier/und in den Sonnenaufgang,/genießen die Pennerstunde.“ Billys Geste des Mitgefühls soll die erste in einer Reihe werden, die von tiefem gegenseitigem Respekt, Achtung, Anerkennung und Aufrichtigkeit gestaltet ist.
Diesen Erzählstrang fokussiert der Originaltitel „The Simple Gift“ – im Gegensatz zu Uwe-Michael Gutzschhahns sechzehn Jahre später erschienen Übersetzung, die mit dem Titel „Wir beide wussten, es war was passiert“ die Liebesgeschichte zwischen Billy und Caitlin zentriert. Dass das Original und die Übersetzung durch ihre jeweilige Titelwahl einen anderen Erzählstrang fokussieren, verweist aber nur darauf, dass beide Beziehungen gleichwertig zueinander sind, und es vor allem Tugenden wie Respekt, Wertschätzung, Dankbarkeit und Nächstenliebe sind, die Herrick hervorheben möchte.
Dabei wählt der Autor Figuren, die nur auf den ersten Blick durch ihre Anlangen wie Stereotype erscheinen – ‚der Obdachlose‘, ‚die reiche Tochter‘ und ‚der Schulabbrecher‘. Auf den zweiten Blick handelt es sich jedoch um Individuen, die fern ab von den ihnen zugewiesenen Vorurteilen und vor allem als Menschen wirken. So ist Billy ein Schulabbrecher, für den Literatur nicht nur eine Form des Eskapismus ist, sondern der von sich selber sagt, dass er alles, was er wissen müsse, aus Büchern gelernt habe.
Die LeserInnen dieses Werkes lernen Herricks symbolreiche und poetische Sprache kennen, die sich fließend lesen lässt und vor allem durch die rhythmische Prosa eine ganz besondere Atmosphäre schafft. Diese wird durch den Perspektivenwechsel zwischen den jeweiligen Ich-Erzählungen der drei Hauptfiguren Caitlin, Old Bill und insbesondere Billy verstärkt. Herrick vermag es so, alle drei Hauptfiguren aus ihren Perspektiven mit ihrem eigenen Wortschatz und einer individuellen Ausdrucksweise sprechen zu lassen, wodurch die Empfindungen und Wahrnehmungen der einzelnen Figuren unterstrichen werden. Dieser Wechsel der Sichtweisen ist durch kurze Unterkapitel möglich, die jeweils mit einer Überschrift und dem Namen der ErzählerIn versehen sind. Zusammengefasst sind es elf Hauptkapitel, die wiederum mit einem Titel sowie einem Zitat aus dem folgenden Kapitel eingeleitet werden.
Trotz der überschaubaren Handlung wird eine gefühlvolle Geschichte von Freundschaft, der ersten Liebe und dem Wert der kleinen Dinge im Leben erzählt, die für Jugendliche ab 13 Jahren geeignet ist. Aufgrund der rhythmischen Prosa und der moralisch vorbildlichen Entscheidungen der Figuren hebt es sich von unzähligen anderen Liebesgeschichten ab.
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