Meinderts, Koos: Ich kann das Meer sehen
Fragen ohne Antworten
von Svenja Halfmann, Tara Kern-Friese und Viktoria Notzon (2017)
Manchmal sind es nur Momente, die ein ganzes Leben nachhaltig beeinflussen. Es sind Begegnungen und Ereignisse, die uns bereits in jungen Jahren berühren und die dann den Lebensweg bestimmen können, sodass man sie gemeinhin als schicksalhaft bezeichnet. – Die intensive Freundschaft von Kees und Jan, die Koos Meinderts in seinem Adoleszenzroman „Ich kann das Meer sehen“ melancholisch und eindringlich verarbeitet, ist in diese Kategorie des Schicksalhaften einzuordnen.
Kees und Jan leben Ende der 1950er Jahre im selben Dorf nahe der niederländischen Küste. Doch sie begegnen sich erst richtig, als sie eines Tages beide an der gleichen Stelle angeln möchten. Nach dieser Begegnung, die mit einer blutenden Nase und einem Fisch am Haken endet, werden die beiden Jungen Freunde. Sie rauchen zusammen und diskutieren darüber, was für sie Freiheit bedeutet. Der impulsive Jan zeigt dem nachdenklichen Kees, wie man Mädchen beeindruckt, sie beschließen auf die gleiche Schule zu gehen und Kees muss Jan irgendwann gestehen, dass er Jans schöne Schwester Marijke liebt. Außerdem ist da der hohe Schornstein bei der Gärtnerei, von dem Jan unbedingt wissen möchte, ob man von ganz oben das Meer sehen kann. Als es soweit ist, passiert das Unvorstellbare. – Was wäre aus den beiden Jungen geworden, wenn dieser Tag nie gekommen wäre?
Nuanciert und gefühlvoll schildert Meinderts die Leben der beiden Jungen, die unterschiedlicher nicht sein können. Die Leser*in wird bereits im Prolog mit der Katastrophe konfrontiert, die Kees für immer verfolgen wird. Dabei werden behutsam Themen ausgehandelt, die allen Heranwachsenden begegnen: die erste Liebe, die Fragen nach der eigenen Identität und nach dem ‚richtigen‘ Lebensweg, die Bedeutung von Familie, Freundschaft, Glaube und Verlust. Durchgehend bleibt die Leser*in ganz nah bei dem Protagonisten Kees und übernimmt seine Perspektive.
Meinderts‘ Werk handelt aber zugleich auch, wenngleich weniger dominant, vom Versuch, sich mit der eigenen Vergangenheit und mit vermeintlicher oder tatsächlicher Schuld auseinanderzusetzen. Dabei nimmt der Roman die Leser*innen anschaulich und ehrlich mit in die Welt von drei Heranwachsenden und führt auch, durchaus vergleichbar mit Koss Meinderts zuvor erschienenem Werk „Lang soll sie leben“, behutsam und auch für jüngere Leser*innen verständlich in die Gedankenwelt eines älteren Menschen ein. Die Figuren werden so gezeichnet, dass man sich in ihnen wiederfinden kann. Der natürliche und einfache, aber trotzdem anschauliche Schreibstil nimmt die Leser*in gefühlvoll an die Hand und erzeugt ein kurzweiliges Leseerlebnis, das zugleich einige der großen Fragen des menschlichen Lebens berührt und zum Nach- und Weiterdenken anregt.