Muñoz Ryan, Pam (Text) und Sìs, Peter (Illustration): Der Träumer
Ich bin Poesie
von Anika Straub (2014)
Wer schüttet das Wasser aus der Wolke auf die verschneiten Gipfel bis zum Fluss und nährt damit den ewig durstigen Ozean? In welches geheimnisvolle Land führt eine unfertige Treppe? Was bringt uns der Wind? Was trägt er mit sich fort? Wo ist sein Fundbüro?
Neftalí Reyes ist ein Träumer. Er ist acht Jahre alt und lebt in Temuco in Chile. Neftalí ist ein schmächtiger, introvertierter Junge mit viel Fantasie. Seit er denken kann, verspürt er eine starke Anziehung zu Lauten und Wörtern. Für die Mathematik hat er nichts übrig, er liebt die Welt der Buchstaben, die Welt der Geräusche und die Welt der einfachen Dinge. Wörter, die ihn besonders faszinieren und deren Rhythmus er besonders liebt, Wörter wie „Lokomotive“, „Leguan“ und „schrecklich“ bevölkern zahlreich seinen Geist und auf kleinen, weißen Zetteln auch seine Schublade. Schon bevor er alle Worte verstehen kann, liest er ganze Bücher.
So sehr er Worte liebt, verschluckt er sich an ihnen und stottert, wenn er sie aussprechen soll. Andere Kinder können mit ihm nichts anfangen, und ihm fällt es schwer, Kontakt aufzunehmen. Neftalí liebt die Natur und liebt es, Dinge zu sammeln wie Steine, Muscheln, Äste, Stöcke oder Weggeworfenes wie alte Kleidungsstücke oder Schuhe. Alles ist für ihn magisch und anziehend, denn überall sieht er die Geschichten hinter den Dingen. Er behandelt die gefundenen Gegenstände wie Schätze und bewahrt sie in seinem Zimmer auf. Neftalí ist ein ganz eigener Charakter, der in seiner eigenen Welt lebt. Die meiste Zeit ist er alleine. Seine Flucht in sein Inneres ist fast schon eine Notwendigkeit, denn in der Realität hat er mit dem Druck seines Vaters zu kämpfen, der als unerbittlicher, autoritärer Patriarch mit der Trillerpfeife die Familie regiert und für seinen schwächlichen, träumerischen Sohn nicht viel übrig hat.
Der Vater ist leitender Angestellter bei der Eisenbahn und deshalb sehr oft nicht zu Hause. Doch wenn er da ist, dann macht er Neftalí, dessen großem Bruder Rodolfo und der kleinen Schwester der beiden, Laurita, das Leben schwer. Mit harter, unbeugsamer Hand versucht er, seine Kinder zu dem zu formen, was er sich für sie vorgestellt hat – in Neftalís Fall soll das der Beruf des Arztes oder des Anwaltes sein. Rodolfo hat ein großes Talent zu singen, jedoch wird ihm vom Vater das Singen bei Strafe untersagt. Neftalí hat großen Respekt und richtiggehend Angst vor seinem Vater. Diese widrigen Bedingungen sind immer wieder Auslöser für Neftalís Flucht in die Poesie und an seine Sehnsuchtsorte. Jedoch versucht er trotz aller Schwierigkeiten, immer wieder des Vaters Aufmerksamkeit zu erlangen. Er hofft, in ihm den „anderen“ Vater, den netten Vater zu finden, der ihn versteht und Zeit für ihn hat. Dies hofft er jedoch vergebens. Der Vater bleibt zeit seines Lebens hart und unzugänglich.
Neftalís leibliche Mutter ist gestorben, als er noch ganz klein war, aber in seiner Stiefmutter, die er liebevoll Mamadre nennt, findet er eine kleine Hilfe. Sie ist durchaus eine liebenswerte Person, die sich rührend um die Kinder kümmert. Jedoch ordnet auch sie sich dem Vater bedingungslos unter; Schutz und liebevolle Zuwendung bietet sie immer nur hinter des Vaters Rücken. Wenn es hart auf hart kommt, verstummt sie: In den Ferien schickt der Vater Neftalí und Laurita jeden Tag zum Schwimmen in den Ozean, um sie abzuhärten, wie er meint. Der Vater gefährdet, ohne mit der Wimper zu zucken, das Leben seiner Kinder – die kleine Laurita kann noch überhaupt nicht schwimmen –, und Mamadre traut sich nicht, schützend einzugreifen. Der Vater wird wie eine Naturgewalt beschrieben, gegen die sich keiner traut aufzubegehren. Keiner, außer Onkel Orlando, Mamadres Bruder, der genauso nett und liebevoll wie Mamadre ist. Der Onkel besitzt eine kleine Zeitung, in der er sich vorrangig für die Rechte der Mapuche, der chilenischen Ureinwohner, einsetzt. Er hat Mut, seine Meinung zu sagen, und schafft es immer wieder, sich gegen Neftalís Vater durchzusetzen, auch zugunsten Neftalís. Kein Wunder also, dass Onkel Orlando Neftalís größtes Vorbild ist. Neftalí hängt an den Lippen seines Onkels und weicht nicht von seiner Seite. Onkel Orlando ist es auch, der Neftalís Talent erkennt und ihn immer wieder auf seinem Weg unterstützt und später sogar durchsetzt, dass der Junge in seiner Zeitung arbeiten darf.
So vergehen die Jahre, und für den Konflikt mit dem Vater scheint es keine Lösung zu geben. Dieser Konflikt, der ein zentrales Thema des Buches darstellt, ist auch ausschlaggebend für Neftalís späteren Künstlernamen. Nachdem Neftalí schon für eine größere Zeitung arbeitet und sein Vater nach der Veröffentlichung eines Artikels seines Sohnes komplett die Fassung verliert und alles verbrennt, was er in Neftalís Zimmer an Geschriebenem finden kann, legt sich Neftalí ein Pseudonym zu, um in Zukunft seinem Vater die ‚Schande‘ zu ersparen, einen Dichter als Sohn zu haben. Er versichert seinem Vater, dass „Neftalí Reyes“ ihn nicht enttäuschen werde, und schreibt ab diesem Zeitpunkt nur noch unter dem Namen „Pablo Neruda“. Danach verlässt der Junge endgültig seines Vaters Haus, zieht in die Stadt, beginnt zu studieren und für verschiedene Zeitungen zu arbeiten.
Anhand einzelner Anekdoten wird die Wandlung von Reyes zu Neruda episodisch nachgezeichnet. Hierzu gehört z.B. auch die Geschichte des Spielzeugschafes, welches Neftalí als kleiner Junge mit einer großen Sehnsucht nach Freundschaft von einem unbekannten Kind durch ein Loch im Gartenzaun gesteckt bekommt. Leider erfährt er nie, wer der unbekannte Tauschhändler war, das Schaf jedoch wird seit diesem Zeitpunkt sein treuer und wichtiger Begleiter. Erzählt wird auch die Geschichte des Schwans, den Neftalí mit seiner Schwester Laurita zusammen im Urlaub kennen und lieben lernt. Als des Schwans Weibchen von Menschen getötet wird und der Schwan selbst schwer verletzt wird, versuchen Neftalí und Laurita bis zum Schluss, sein Leben zu retten, auch wenn dies nicht immer einfach ist, da die Existenz des Schwanes natürlich vor dem Vater geheim gehalten werden muss. Die Liebe und Hingabe, mit der Neftalí den Schwan behandelt, die Trauer, die er nach seinem Tod empfindet, die ganze Energie der empfundenen Emotionen steht sinnbildlich für Neftalís herausragende Fähigkeit, sich emotional hinzugeben. Durch solche Aneinanderreihungen wichtiger Episoden ist die Erzählweise oft elliptisch und lässt viel Raum, der durch den Leser zu füllen ist.
„Der Träumer“ von Pam Muñoz Ryan, illustriert von Peter Sís, ist eine fiktionalisierte Biographie und schildert die Kinderzeit Nerudas von acht bis 15 Jahren. Sie erzählt, wie aus einem kleinen, stotternden Jungen trotz immenser Widrigkeiten einer der bedeutendsten Poeten des 20. Jahrhunderts wird. Die Erzählung wechselt ohne Vorbereitung zwischen Traumsequenzen und Realität hin und her, und der Leser weiß oft nicht in welcher Form er sich gerade befindet. Manchmal ist nicht erkennbar, wer eigentlich spricht. Ist es Muñoz Ryan, ist es Neruda?
Die Geschichte wird von der personifizierten Poesie, die spricht und Fragen stellt, gerahmt. Im Anhang erfährt man, dass die Autorin sich wünscht, dass der Leser angeregt werde, eigene Fragen zu stellen und sich neue Antworten auszudenken. Sie möchte seine Neugierde wecken, so wie ihre Neugierde von Pablo Nerudas „Das Buch der Fragen“ geweckt wurde. Vor jedem Kapitelblock ist eine grüne Doppelseite platziert, die mit „Ich bin Poesie“ beginnt, eine Aussage der „Poesie“ wiedergibt und von einer dazu passenden Illustration geschmückt wird. Die Schrift und die Zeichnungen des Buches sind ebenfalls grün, in Anlehnung daran, dass Neruda mit Vorliebe mit grüner Tinte, der Farbe der Hoffnung, geschrieben hat.
Die Kapitel sind in vier thematische Blöcke – Wetter, Wald, Wasser und zuletzt Gefühle – unterteilt, mit jeweils drei Kapiteln zu einem Thema. Jedes Kapitel beginnt mit einer einzelnen illustrierten Seite, auf der drei untereinander angeordnete Bilder zu sehen sind, die einen thematischen Ausblick auf das folgende Kapitel geben. Unterbrochen sind die Kapitel immer von illustrierten Seiten mit Fragen in Kursivschrift, die von der „Poesie“ gestellt werden und die ungewöhnlicher, philosophischer und poetischer Natur sind: „Welche Farbe hat eine Minute? Ein Monat? Ein Jahr?“ Dieser stringente Aufbau wird jedoch von dem Leser fast gar nicht wahrgenommen, da die Ausgestaltung durchgängig künstlerisch überformt ist und so die Aufmerksamkeit fesselt. Man hat beim Lesen der Geschichte das Gefühl, in eine poetische Traumwelt abzutauchen, die durch die vollkommene Komposition von Geschichte, Bildern und lautmalerischen Schriftzügen erzeugt wird. In der Größe und Anordnung der Buchstaben findet sich oft konkrete Poesie wieder. Die Sprache des Buches, passend zu den Zeichnungen, ist oft sehr bildlich und metaphorisch, z.B. wird auf einer Doppelseite lautmalerisch mit verschieden großen Schriftzügen das Tropfen des Regens dargestellt, oder einzelne Worte schweben über die Seiten. Oft sind die Sätze in die Zeichnungen verwoben. Der Leser bekommt den Eindruck eines gelungenen Gesamtkunstwerkes von Bild und Sprache.
Dies gelingt nicht zuletzt auch dadurch, dass der Illustrator Peter Sís, der Autor der „Konferenz der Vögel ", ein wahrer Meister auf seinem Gebiet ist und dies auch bei dem „Träumer“ wieder in beeindruckender Weise unter Beweis stellt. 2012 bekam er für sein Schaffen den Hans-Christian-Andersen-Preis verliehen. Die Illustrationen in „der Träumer“ sind für Sís charakteristisch: Sie sind pointillistisch und in diesem Fall einzig mit derselben grünen Farbe, in der auch die Schrift ist, gearbeitet. Es gibt drei Hauptarten von Illustrationen: einmal die Zeichnungen auf grünem Hintergrund, wenn die „Poesie“ spricht, dann die drei kleinen vorausdeutenden Bilder vor jedem Kapitel und schließlich noch die einzelnen Zeichnungen, die teilweise textbegleitend oder auch hervorhebend den charakteristischen Moment der Handlung betonen. Zudem gibt es noch einige freie Formen, die sich so in der Art und Weise jeweils einmal im Buch finden lassen. Sìs arbeitet so nur mit Strichen, Tupfen, Licht und Schatten die treffendsten Aspekte der Geschichte heraus. Seine Zeichnungen scheinen fast selbst poetischen Charakter zu besitzen, und der Leser hat durch sie das Gefühl, in Neftalís fantastische Welt hineinsehen zu können. Das Bedrohliche des Vaters wird mehrfach nur durch die Darstellung seiner Silhouette verdeutlicht. Wie auch im Text vermischen sich auf der Bildebene Traumsequenzen mit Realität, denn sehr häufig werden auch nur fantastische Vorstellungen Neftalís dargestellt, sodass die Grenzen von Fiktion und Nonfiktion sowohl im Text als auch in den Bildern fließend sind. Das Buch ist geprägt von den Gegensätzen von magischem Realismus und sachlichen, biographischen Aspekten sowie der literarischen Fiktion und der Poesie.
Im Nachwort erfährt man durch die Autorin, dass sich das Werk auf wahre Begebenheiten aus dem Leben des Pablo Neruda stützt. Sie erläutert, dass die Anekdote mit dem Spielzeugschaf für sie der ausschlaggebende Punkt gewesen sei, sich näher mit dem Privatleben Pablo Nerudas zu beschäftigen. Zudem erfährt der Leser noch einzelne Hintergründe über Nerudas Leben, seine Philosophie und sein Schaffen. Das Buch schließt mit einem Auszug aus den „Gedichten und Oden von Pablo Neruda“ ab. Hier kann der Leser neun ausgewählte Gedichte Nerudas lesen, und die Autorin schlägt somit eine Brücke zu dem realen Poeten und seinen Werken. Jedoch bleibt dem Leser kritisch zu bedenken, dass im „Träumer“ die Darstellung Nerudas ausschließlich positiv besetzt ist und seine zumindest zeitweilige und fragwürdige Nähe zum Stalinismus völlig außer Acht gelassen wird.
Dennoch: „Der Träumer“ ist ein kleines Meisterwerk und ein sehr ungewöhnliches Kinderbuch, denn für Kinder ab zehn Jahren – solche sind in diesem Fall angesprochen – sind Bücher mit solch ausgeprägtem, poetischen Charakter eine Seltenheit. Nicht zuletzt durch seine schöne Machart und die positiven Gefühle, die beim Lesen aufkommen, ist „der Träumer“ nicht nur für Kinder geeignet, sondern kann für Menschen jeden Alters eine Bereicherung sein.
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