Hole, Stian: Annas Himmel
Pracht und Tod
von Ulrich Kreidt (2014)
Stian Hole, geboren 1969, ist bekannt geworden durch sein Bilderbuch „Garmans Sommer“ (norweg. 2006, dt. 2009), für das er u. a. den Bologna Ragazzi Award und den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten hat und zu dem noch zwei Fortsetzungen („Garmans Straße“, 2011; „Garmans Geheimnis“, 2012) erschienen sind. Die Bücher schildern die Ängste und Erlebnisse eines zu Anfang sechsjährigen Jungen vor und nach seiner Einschulung. Während hier der Betrachter durch karikaturistische Elemente – z. B. eine ungeschminkte Darstellung des Alters – unmittelbar an den Ängsten des Jungen teilhaben kann, breitet sich beim Durchblättern von Holes neuem Bilderbuch „Annas Himmel“ die reine Augenlust vor ihm aus: Blumen, exotische Fische und Vögel, Menschen, Phantasiewesen – all dies ist in strahlenden Farben verschwenderisch über die Seiten verstreut.
Beim zweiten Blick und beim Lesen wird aber deutlich: Das Thema des Buches ist der Tod. Anna hat mit ihrem Vater gerade einen schweren Weg vor sich: zur Beerdigung ihrer Mutter. Die Trauerfeier wird in einer Kapelle auf der anderen Fjordseite stattfinden. Wie geht das mit der üppigen Buntheit der Bilder zusammen? Die Antwort liegt in Annas Phantasie: „Wenn ich die Augen schließe, kann ich alles vor mir sehen, was ich will.“ Und Stian Hole lässt uns an dem Geschauten teilhaben. Alles habe zwei Seiten, hat die Mutter einmal zu Anna gesagt. Dieser doppelte Blick auf die Realität einerseits und die inneren Bilder anderseits wird mehrmals thematisiert. Auf dem Anfangsbild, das den Aufbruch zeigt, sitzt Anna, den Kopf nach unten, auf einer Schaukel. Später (wie auch auf dem Umschlagbild) liegt sie, ebenfalls ‚verkehrt herum‘, auf einer Wiese, eines ihrer Augen ist mit einer Blüte verdeckt. Auch der Innentitel zeigt ein Augenpaar vor den Silhouetten zweier nach oben bzw. unten zeigender Hände, die – in der Manier des Surrealisten René Magritte – aus einer Himmelsfolie mit weißen Wolken ausgeschnitten zu sein scheinen.
Eine Doppelseite genau in der Mitte des Buches macht die Kraft von Annas Phantasie deutlich: „Das Meer hat so viele Stimmen, flüstert Anna. Es hört sich an wie ein himmlischer Chor, der leise summt: ein Lied über Krebse und Seeigel, die in der Tiefe gurren.“ Im Bild hört Anna das Meer in einer Nautilus-Muschel rauschen, die, ebenso wie ihr rotes Haar, in einer wahren Farbexplosion Kraken, Fische, Korallen aus sich entlässt, aber auch Zweige, Blüten, Vögel, schemenhaft weiße Rentiere, Menschen, schließlich aber auch Formen wie Einzeller und Planeten – eine ganze Welt.
Die Macht ihrer Vorstellungskraft ermöglicht es Anna, ihren Vater mitzunehmen auf eine Phantasiereise. Dazu durchstoßen sie den Wasserspiegel des Fjords, schweben im Wasser, das zum Himmel wird, begleitet von Wasserpflanzen und Fischen, dann auch von Schmetterlingen und bunten Vögeln. Die Stationen ihrer Reise sind bestimmt von der Frage, wo sich ihre Mutter jetzt wohl befinden mag. „Hier draußen leben die Unsichtbaren“, sagt Anna, und so sieht man Abgeschiedene – Menschen wie auf alten Fotos, aber auch historische Figuren wie Breschnew, Darwin, Elvis oder Picasso – wie Badende bis zur Brust im blauen Meer stehen und im nächsten Bild, zusammen mit Tieren, horizontal am Himmel schweben. Das Bild zur Überlegung „Vielleicht jätet sie Unkraut im Paradies“ zeigt die Mutter schwarzweiß in einem üppig bunten Pflanzengewirr voller Blüten und exotischer Tiere, das etwas an die giftig leuchtenden Tierbilder des zeitgenössischen Malers Walton Ford erinnert. „Oder sie besucht jemanden, den sie lange nicht gesehen hat“: Es erscheint am hellblauen Himmel ein heller, gedeckter Tisch mit jungen und alten Verstorbenen, unter ihnen Annas Mutter, der Großvater und, verzückt in einem Gedichtband der norwegischen Lyrikerin Gro Dahle lesend, der alte Briefträger, den man aus „Garmans Straße“ kennt. Wieder in der Luft, zusammen mit Büchern, einem Lesesessel („Vielleicht ist Mama auch in der Bibliothek“), phantastisch bunten Vögeln, Quallen etc., sagt Annas Vater: „Hier bin ich noch nie gewesen […]. Ich bin froh, dass du mich mitgenommen hast.“
Im letzten Bild hat der Vater die gleiche Position auf der Schaukel eingenommen wie Anna am Anfang – und lächelt. Der Aufbruch steht immer noch bevor – zwischen Anfang und Ende des Buches ist nur kurze Zeit vergangen. Der Stimmungswandel spiegelt sich auch in den Vorsatzblättern am Anfang und Ende des Buches. Magritte hatte in einem seiner Bilder von 1953 lauter Melonen tragende Männer in der Luft schweben lassen, deren Anordnung und perspektivische Verkleinerung den Eindruck erweckten, als sei der Himmel gleichmäßig mit ihnen gefüllt. Hole bedient sich dieser Idee, indem er den Himmel zu Beginn mit Nägeln und am Schluss mit Erdbeeren füllt, getreu einem Dialog am Anfang (Vater: „Heute lässt jemand Nägel vom Himmel regnen“, Anna: „aber morgen sind es vielleicht Erdbeeren mit Honig“).
Wie bei den Surrealisten sind Holes Bilder gekennzeichnet vom Nebeneinander phantastischer, ‚unmöglicher‘ Gegenstände und Situationen und ihrer realistischen Wiedergabe. Er bedient sich dazu auch der Möglichkeit, Photos per Computer in seine Bilder einzubauen. Das gilt z. B. für die Porträts der Verstorbenen, aber auch für Anna, deren groß gezeigtes, sehr hübsches Gesicht in gewissem Gegensatz steht zu ihrem kleinen, kindlichen Körper. Anders als den Surrealisten, die mit der Realitätswahrnehmung auch die Sicherheiten des Alltagswissens in Frage stellen wollten, geht es Hole um eine lebensbejahende Stimmung von Lebendigkeit und Leichtigkeit (das Schweben ist die bevorzugte Lage im Raum). Dabei scheut er auch vor dekorativ-gefälligen Arrangements nicht zurück, etwa wenn er Blumen aus den Textinitialen in den blauen Himmel wachsen lässt. Die Tafeln bilden den Textinhalt nicht einfach ab, dieser gibt eher assoziative Anstöße für reiche Bildkompositionen. Einzelne Motive – wie Pfau, Sonnenblume, Fliegender Fisch – tauchen immer wieder auf und werden als alte Bekannte in der Fülle begrüßt.
Auf den letzten beiden Doppelseiten verliert sich allmählich der Schwarm bunter Vögel und Fabelwesen, die Anna und ihren Vater bei ihrem Flug begleitet haben. Zuletzt finden sich beide in der blass-durchsichtigen Landschaft wieder allein mit ihrem Problem, an das Fjord, Boot und Kapelle unmissverständlich erinnern. Damit tritt das Gewagte von Stian Holes Unternehmen auch wieder deutlich hervor: Ist die Phantasiereise der beiden nicht nur eine Flucht, ein vergebliches Leugnen der unerbittlichen Realität? Geht es hier vielleicht auch um ein von Psychologen ‚Reaktionsbildung‘ genanntes neurotisches Verhalten, bei dem auf eine nicht erträgliche Situation mit einem Verhalten reagiert wird, das in keiner Weise zu ihr passt? Aber ist gerade solch eine Reaktion nicht manchmal unbedingt notwendig, um das psychische Überleben zu sichern? Der Stoff von Annas Visionen stammt zu einem großen Teil von ihrer Mutter, deren Poesie und Lebendigkeit auf dieser Reise noch einmal wachgerufen worden sind und Bestandteil ihres Lebens bleiben werden.
Die Frage, für welches Alter diesen schöne Buch geeignet ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Das Spiel zwischen den Ebenen einer alltäglichen und einer phantasievoll veränderten Realität erscheint weniger geeignet für kleinere Kinder, bei denen das Erfassen und Benennen der umgebenden Wirklichkeit noch im Vordergrund steht, also eher für die Zeit nach dem Schuleintritt.