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Titelbild
Angelika Klüssendorf:
April
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014
219 Seiten
€ 18,99
E-Book: € 16,99
Junge Erwachsene

 

Klüssendorf, Angelika: April

Innere Dämonen

von Anika Straub (2014)

„Sie sind ein Kätzchen vom Schuttabladeplatz. Ja, das sind Sie. […] Ein frierendes, verschrecktes Kätzchen, misstrauisch Fremden gegenüber und jeder ausgestreckten Hand. Sie lassen sich nicht so einfach füttern, Sie beißen eher, und wehe dem, der sich Ihnen zärtlich nähert, dann wird aus dem Kätzchen eine fauchende Wildkatze.“ Das ist April. Sie ist gerade achtzehn und von der Jugendhilfe der DDR mit einhundert Mark in die Welt der Erwachsenen entlassen worden. Sie soll nun Teil dieser Welt sein, jedoch ist sie hiervon weit entfernt. Sie ist wechselhaft wie das Wetter im April, in hohem Maße orientierungslos, ängstlich, unverantwortlich sich selbst gegenüber und vor allem: sehr allein. April lebt im Leipzig der späten 1970er Jahre und liebt ihre zerschlissene Levis und den Nickipulli mit der amerikanischen Flagge darauf.

Der neue Roman von Angelika Klüssendorf, nach seiner Protagonistin „April“ betitelt, ist die Fortsetzung des Erfolgstitels "Das Mädchen", der 2011 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Das Mädchen bleibt im ersten Buch namenlos und nennt sich nun zu Beginn des Folgebandes „April“ nach der Klassik und Hard Rock verbindenden Suite von Deep Purple aus dem Jahr 1969. Klüssendorf bemerkt, dass so die beiden Titel auch zusammen gelesen werden könnten als „Das Mädchen April“, denn das zweite Buch setzt dort ein, wo das erste aufhört. Klüssendorf betont jedoch, dass beim Schreiben von „Mädchen“ die Fortsetzung nicht geplant gewesen sei, die Bücher also eigenständig seien und auch eigenständig gelesen werden könnten.

„Das Mädchen“ erzählt aus dem Leben der zu Beginn des Romans zwölf, gegen Ende achtzehn Jahre alten Protagonistin und lässt den Leser an den schrecklichen Erfahrungen teilhaben, die das Mädchen durchmachen muss. Es lebt mit seinen zwei Geschwistern in verwahrlosten Zuständen: Der Vater ist Alkoholiker und lässt sich in der Familie nur ab und zu blicken. Die Mutter – auch sie eine Trinkerin – quält und misshandelt ihre Kinder körperlich, aber vor allem auch psychisch. Das Mädchen verbringt den Großteil seiner Jugend in Heimen.

„April“ beginnt, als das Mädchen gerade volljährig geworden ist. Aprils Leben ist, wie bereits „Das Mädchen“ erwarten lässt, eine Stufe härter als das einer durchschnittlichen Heranwachsenden ihres Alters. Sie versucht sich umzubringen, kommt in die Psychiatrie, hat wiederkehrend harte Aussetzer auf Alkohol und Drogen. In ihrer Phantasie malt sie sich ein alternatives Leben aus, sie schreibt Briefe an imaginierte Geliebte und entwirft sich dabei fiktive Lebensläufe; sie erfindet Geschichten, um interessant zu wirken und beachtet und gemocht zu werden. Tatsächlich trifft sie immer wieder auf Personen, die ihr wohlgesonnen sind und die ihr Anstöße für ihre spätere positive Entwicklung geben.

Die Heftigkeit ihres Schicksals, die Menge der bitteren Begebenheiten, die April erlebt, lassen sich für den Leser nur durch die distanzierte Erzählweise ertragen. Obwohl fast durchgängig unmittelbar und im Präsens erzählt wird, regt der Roman fast gar nicht zur Identifikation an. Dies hat damit zu tun, dass Klüssendorf, obwohl sie im Roman nach eigenem Bekunden Selbsterlebtes verarbeitet hat, auf eine Ich-Perspektive verzichtet. Vielmehr bietet uns ein außenstehender, nicht näher charakterisierter Erzähler die Geschichte mit nüchtern registrierendem Blick. Er erzählt ohne einen dezidierten Spannungsbogen und dazu sehr elliptisch – sechs Lebensjahre werden auf nur gut zweihundert Seiten zusammengefasst –, sodass der Leser die Protagonistin durch die verschiedenen Stationen ihres Lebens begleitet. Hierbei muss er viele erzählerische Leerstellen selber füllen. Der Fokus der Schilderung liegt auf der Identitätssuche Aprils, deren Charakter viele sehr kindliche Anteile aufweist, die offenbar nie ausgelebt werden konnten. Andererseits ist sie vom Schicksal schwer gezeichnet, geradezu traumatisiert und stürzt sich in problembeladenen Situationen durch ihren Drogenkonsum noch mehr in den Abgrund. Ihr kaum berechenbares Verhalten, ihre oftmals schroffen, verletzenden Reaktionen machen es dem Leser bei allem Verständnis schwer, Sympathie für die Figur zu entwickeln.

Die sich zwischen Figur und Leser auftuende Distanz wird noch vergrößert durch die lakonische, häufig kalt anmutende, mitunter fast staccatoartige Sprache des Romans. Angelika Klüssendorf ermöglicht dem Leser einen geraden, einen ungetönten Blick auf die Geschichte. Sie bezeichnet sich selbst als „Bildhauerin der Sprache“; sie streicht immer wieder weg, bis nur der Kern, die Essenz übrig ist. Ihr Anliegen ist es nicht zu werten, deshalb werden dem Leser kaum Erklärungen oder Begründungen geboten, es gibt auch keine literarischen Entlastungsstrategien, die ihm hülfen, die Wucht des Erzählten abzumildern.

April hat einen immer wiederkehrenden Traum: Sie verpasst den Zug, sitzt im falschen Abteil, hat keine Fahrkarte oder fährt in die falsche Richtung. Dies kann als Metapher für ihr Leben gesehen werden. Sie muss sich ihren eigenen Weg ins Erwachsenenleben suchen – mit der damit einhergehenden Verantwortung für sich selbst und später auch für ihren Sohn, den sie im Alter von zwanzig Jahren mit einem Choreographiestudenten namens Hans bekommt. April hat aber immer wieder das Gefühl, sich selbst und dem Leben machtlos ausgeliefert zu sein. Ein zentrales Thema des Romans ist, dass die Protagonistin im Laufe der Geschichte allmählich begreift, dass sie selbst das Leben in die Hand nehmen kann und nicht hilflos ihren inneren Dämonen ausgeliefert bleiben muss.

Vor allem der Geist ihrer sadistischen Mutter scheint allgegenwärtig zu sein. Deren böse Sätze, deren „Kriegsgeheul“, die erlittenen Traumatisierungen vergiften Aprils Seele immer wieder aufs Neue, denn häufig denkt sie an ihre Vergangenheit. Es kommen Sequenzen in ihr hoch, böse Worte, die gesprochen wurden, Erinnerungsfetzen, die in der Luft hängen. Mit Nachdruck wird das Sich-Loslösen der Protagonistin von dieser schlimmen Vergangenheit in Person der Mutter thematisiert. April möchte frei davon sein.

Aprils Beziehung zu sich selbst ist hochproblematisch. Sie ist sehr dünn und trägt bei jeder Temperatur eine Trainingshose unter der Jeans, um ihre Magerkeit zu kaschieren. Ihren Körper betrachtet sie als notwendiges Übel, zu ihm hat sie keinen wirklichen Bezug. Wenigstens hat sie sich zu Beginn des Buches einen Namen gegeben. So ist sie jedenfalls kein Niemand mehr, aber eine Frau ist sie auch nicht wirklich. Sie hat ohnehin eine gestörte Beziehung zu ihrer Weiblichkeit und zur Sexualität. Für das „Ding“ zwischen ihren Beinen kennt sie keinen Namen; „Fotze“ mag sie nicht, aber sie hat keinen anderen. Wenn sie keinen Namen dafür hat, wie soll sie dann damit umgehen? Sexualität erlebt sie in ihren häufig wechselnden Männerbekanntschaften nachgerade als Kampf, und der erregt sie: „April mag es, um sich zu schlagen, zu kratzen, zu beißen, bis ihre Körper ermattet nebeneinanderliegen, inzwischen vertraut genug, um sich für die nächste Schlacht zu rüsten.“ Befriedigende Sexualität kann sie nur mit sich selbst erleben. Sie will die Männer auch gar nicht mit ihrem Körper erobern, sondern mit Worten, will sich ihnen intellektuell als ebenbürtig erweisen. Immer wieder sucht sie den Kontakt zu Bohemiens, zu Autoren, Musikern und anderen Künstlern. An ihnen will sie sich ausprobieren, will sie wachsen. Mit Zuneigung und Nähe, Liebe gar haben diese Beziehungen so gut wie nichts zu tun – solche Emotionen sind falsche Versprechen, wie April bereits in ihrer Kindheit gelernt hat. Abhängigkeit will sie daher gar nicht erst entstehen lassen – aber vor dem Alleinsein fürchtet sie sich auch.

In der gestörten Beziehung zu ihrem Sohn spült ihre eigene Geschichte immer wieder an die Oberfläche. April wird schwanger, als sie gerade das erste Mal das Gefühl hat, so etwas wie Glück zu empfinden. Davor ist das Gefühl von Glück immer nur mit dem Eindruck verbunden gewesen, einigermaßen mit heiler Haut davongekommen zu sein. April versucht mit Hans, der gerade bei der Armee ist, eine heile Welt einzurichten, eine Familie zu gründen, die sie so nie gekannt hat. Jedoch scheitert sie auch hierbei an sich selbst. Von Beginn an kann sie ihrem Sohn Julius nicht die Liebe entgegenbringen, die eine Mutter für ihr Kind normalerweise haben sollte. Im ersten Jahr kümmert sie sich noch um ihn, fühlt sich hierbei jedoch häufig allein gelassen, denn Hans ist oft weg. Als Julius später einen Betreuungsplatz bekommt, entfernt sie sich immer mehr von ihrer Familie, und es ist fast ausschließlich Hans, der sich des Kindes annimmt. Für April bleibt ihr Sohn immer ein Fremder. Ihr will es bis zum Schluss nicht gelingen, eine auch nur annähernd tragfähige Beziehung zu ihm aufzubauen.

Bereits seit frühester Kindheit ist April von Büchern fasziniert. Von der Mutter im Keller eingesperrt, hat sie stundenlang Brehms Tierleben und Grimms Märchen gelesen. Mit Büchern und Geschichten kann sie auch später aus der sie einengenden Realität fliehen, doch Bücher geben ihr auch Halt und Orientierung, sind ihr nachgerade ein Rettungsanker. Die Literatur, die sie liest, und die Musik, die sie hört, werden im Laufe der Geschichte und mit fortschreitender Entwicklung Aprils deutlich anspruchsvoller und komplexer. April schafft es zunehmend, das schüchterne, kleinen Mädchen hinter sich zu lassen und eine Frau zu werden, die selbst Entscheidungen trifft, ernst genommen wird und ihre Wünsche verwirklicht – jedoch nur zu einem gewissen Grade, denn sie macht immer gleichsam zwei Schritte vor und einen zurück. Die Traumatisierungen sind mitunter übermächtig, und April scheint sich nicht selten in einem Kreislauf der Selbstzerstörung zu befinden, aus dem sie nur schwer ausbrechen kann. Häufig ist sie es selbst, die mühsam Errichtetes scheinbar grundlos wieder einreißt. Aber die Leidenschaft, die April für die Schriftstellerei entwickelt, für Philosophie und Kunst, spurt ihr Erwachsenwerden und öffnet am Ende ein Fenster in ein selbstbestimmteres Leben. Sie fängt wirklich an zu schreiben und bekommt später im Westen, wie wir aus dem ausblickgebenden „Epilog“ erfahren, sogar ein Stipendium für Literatur: „Sie wird ernstgenommen, das, was sie schreibt, wird ernst genommen.“

Der gesellschaftliche Raum der DDR, vor dessen Folie sich Aprils Leben entwickelt, hat in Klüssendorfs Roman in starkem Maße symbolische Bedeutung: Die Enge und Trostlosigkeit in Aprils Kopf widerspiegelt die Enge und Trostlosigkeit der äußeren Umstände; ihnen muss die Protagonistin entfliehen, wenn sie sich entwickeln will. Ihr Aufbruch ist daher zugleich ein Ausbruch aus dem Zerfall und der Agonie, die das System kennzeichnen. Dabei ist April nicht wirklich eine Systemgegnerin, auch wenn sie immer wieder mit Menschen in Kontakt kommt, die gegen das sozialistische Regime in der einen oder anderen Weise aufbegehren. In ihrer politischen Naivität glaubt sie nicht wirklich an die Schauergeschichten, die andere über die Stasi erzählen, und ihre eigenen Erfahrungen scheinen das zu bezeugen. Sie hat immer wieder Glück in der Konfrontation mit dem totalitären Staat, etwa wenn sie eine Parteifunktionärsveranstaltung boykottiert, sich betrunken an Fahnen der „Bruderländer“ zu schaffen macht und später mit einer Freundin gar eine Untergrundmappe mit dem bezeichnenden Namen „Anschlag“ herausbringt. Trotz dieser Aktionen, in die sie mehr oder weniger hineinrutscht, ist April nicht eigentlich politisch. Es geht ihr mehr um Gerechtigkeit, darum, nicht bevormundet zu werden. Sie hat gelernt, sich gegen Obrigkeiten aufzulehnen, so auch gegen den Staat. Ihrer Handlungen ist sie sich allerdings nicht wirklich bewusst, mehr noch: Der allgegenwärtige Kontrollapparat – immer mit dem Pronomen „sie“ bezeichnet, worunter ganz Verschiedenes gefasst sein kann: die Jugendhilfe, die Stasi, die Parteifunktionäre, die Kollegen, die Vermieterin mit ihrem Putztick –, gegen den sie aufbegehrt, ist eigentlich nur Verstärker eines Unbehagens, das April tief in sich trägt. Als ihr später mit Hans die Ausreise gelingt, bereut sie diese denn auch schnell, und absichtsvoll nimmt sie ihren Wohnsitz in West-Berlin, weil es hier nach ihrer Auffassung noch am ehesten Ähnlichkeiten zur DDR gibt.

Die Geschichte ist ergebnisoffen. Es wird klar, dass April große Fortschritte gemacht hat, dass ihre positiven Gefühle sich gesteigert haben und dass sie ihre Beziehung zu ihrem Sohn nunmehr reflektiert und gerne ändern möchte. Ob sie jedoch fähig ist, dauerhaften Frieden mit sich und ihrer Vergangenheit zu machen, erfährt der Leser nicht. Theoretisch wäre jedes Ausgangsszenario möglich.

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