Gruß, Karin (Text) und Tobias Krejtschi (Illustration): Ein roter Schuh
Bilder vom Kriegsalltag
von Nadine Seidel (2014)
„In früheren Zeiten sagte man: es ist süß und notwendig, fürs Vaterland zu sterben. Im modernen Krieg jedoch gibt es fürs Sterben nichts Süßes oder Notwendiges. Man krepiert wie ein Hund und ohne guten Grund.“ Das 2013 erschienene Bilderbuch „Ein Roter Schuh“ von Karin Gruß mit Bildern von Tobias Krejtschi („Die schlaue Mama Sambona“, „John Maynard“) scheint diesem Ausspruch Hemingways ein Denkmal setzen zu wollen. Die Frage ist nur: warum so?
Während der Rückdeckeltext – fungiert er nur als Klappentext? bildet er bereits die Erzähleröffnung? – noch von einem kindlichen Protagonisten erzählt („Kenan ist ein ganz normaler Junge. Am liebsten spielt er Basketball mit seinen Freunden.“), wird die beim Leser so geschürte Erwartung, die Geschichte aus der Perspektive des Jungen zu erfahren, gleich im Vorsatzbild gebrochen. Denn das Vorsatz – es präsentiert das erste von insgesamt zwölf doppelseitigen Bildern – zeigt aus leicht schräger Vogelperspektive einen mit Kippenstummeln, Kaffeetassen und Alkoholika übersäten Schreibtisch, auf dem rauchend, den Blick zum Boden gerichtet, ein Mann sitzt. Aufgrund von Laptop, ausgebreiteter Zeitung („Schoolbus Attacked“), verstreuten Photos und professioneller Kamera kann er als (Kriegs-)Photoreporter identifiziert werden. Der kindliche Protagonist ist lediglich auf einem kleinen Photo an der Pinnwand zu finden, reduziert auf seinen Opferstatus und abgelichtet von jemandem, der nun als der ‚eigentliche‘ Erzähler der Geschichte zu erkennen ist: einem resignierten Kriegsreporter.
Auf den folgenden elf Doppelseiten erzählt der Reporter nun von dem kurzen Zeitraum, in dem er per Handy über einen beschossenen Schulbus informiert wird und zu Fuß zum Krankenhaus geht, um dort Aufnahmen von den Verletzten zu machen. Auf seinem Weg dorthin passiert er Ruinen mit spielenden Kindern. Als er im Krankenhaus ankommt, gerät der bewusstlose Kenan in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Ist er zunächst nur ein Verletzter unter mehreren, folgt dann der Blick ausschließlich ihm und dem involvierten Notärzte-Team. Hier leuchtet zum ersten Mal der blutrote Basketballschuh des Jungen auf, was den Erzähler daran erinnert, ein ähnliches Paar seinem Neffen geschenkt zu haben.
Als der Reporter Kenans Schuh heranzoomt, wandelt sich auf der nächsten Doppelseite alles: Seelenruhig steht Kenan auf, zieht sich die Schläuche aus den Venen, dribbelt seinen Ball und will das Zimmer verlassen. Allein die Tatsache, dass diese Doppelseite als einzige im gesamten Buch farbig gehalten ist, gibt schon einen Hinweis auf das nächste Bild: Das vermeintliche Happy End ist nur für einen kurzen Augenblick in der Phantasie des (unzuverlässigen) Erzählers aufgeschienen; ohne ‚Vorwarnung‘ des kindlichen Lesers endet die Geschichte vielmehr mit der Darstellung, wie dem immer noch bewusstlosen Jungen über einen Infusionsschlauch Blut zugeführt wird: „Vielleicht bedeutet das Kenans Leben.“ Das letzte Bild – der Reporter unterhält sich am Telephon mit seinem Neffen über die laufende Basketballsaison – schlägt auf der Textebene den Bogen zu einer anderen, friedvolleren Kindheit.
Das Buch arbeitet mit einer ebenso einfachen wie wirkungsvollen Farbgebung bzw. -symbolik: Konsequent wird die Kriegsrealität in monochromen Grautönen dargestellt, einziger farblicher Kontrast ist das Rot von Kennans Basketballschuh. Die Doppelseite, die aufzeigt, wie Kenans Realität ohne Krieg aussehen könnte – dies ist als Gleichnis einer Kindheit zu lesen, wie sie sein sollte und Kenan sie nie hatte –, ist mehrfarbig und weist in vielerlei Hinsicht einen Kontrast zu allen anderen Bildern auf: Es gibt keine schmerz- oder angstverzerrten Gesichter, und die Personen schauen ruhig auf, ohne den Blick abzuwenden. Auch fehlt der blutrote Schuh, dem eine Doppelfunktion zukommt: Zum einem entspricht der Rotton jenem, welcher für den großen Blutfleck auf dem Titelblatt gewählt wurde, zum anderen stellt er ein Symbol dar, das auf eine ‚normale‘ Kindheit referiert, da der Neffe des Reporters das gleiche Basketballschuhmodell besitzt.
Nimmt man die Alterszuweisung des Verlages ernst – das Buch wird für Kinder von sechs bis acht Jahren empfohlen –, ist dieses Bilderbuch radikal: Es verweigert dem Leser/ Betrachter konsequent einen für dieses Genre typischen Protagonisten bzw. lässt diesen zwar Gegenstand der Erzählung sein, ihn aber nicht zu Bewusstsein gelangen. Er beraubt ihn vielmehr gänzlich seiner Souveränität und reduziert ihn konsequent auf das, was als ‚Kollateralschaden‘ bezeichnet wird. Auch die Perspektive eines Kriegsreporters, der ausschließlich schmerzverzerrte Gesichter und stumpfe, abgekämpfte Blicke wahrnimmt, wirkt in ihrer Düsternis ungeeignet für ein Bilderbuch, das sich an die genannte Altersgruppe richtet. Weder werden Erklärungen in Bezug auf aktuelles Kriegsgeschehen angeboten, noch wird eine Perspektive des Trostes aufgezeigt, welche die basale Aussage, dass es in einem Krieg nur Verlierer gäbe, flankieren könnte. Somit wird der kindliche Leser eher verstört, denn erhellt aus der Lektüre entlassen – denn das Wissen um die Tatsache, dass Mord und Totschlag, Leid, Gewalt und Blutvergießen schrecklich sind, ist Kindern intuitiv beschert.
„Der rote Schuh“ wurde als deutscher Beitrag für die Biennale der Illustrationen Bratislava 2013 sowie für den Heinrich-Wolgast-Preis 2013 nominiert und von der Stiftung Buchkunst als eines der 25 schönsten deutschen Bücher 2013 gewählt.