Erdrich, Louise: Das Haus des Windes
Jenseits des Zuständigkeitsbereiches
von Anika Straub (2014)
Was an einem Sonntag des Jahres 1988 in North Dakota, im Reservat der Nation der Ojibwa, geschieht, wird Joe Coutts Leben unwiderruflich verändern. In diesem Sommer ist Joe dreizehn Jahre alt.
Bis zu diesem Sonntag ist Joe wohlbehütet aufgewachsen. Sein Vater ist Richter für Stammesangelegenheiten, und seine Mutter Geraldine arbeitet im Stammesbüro für indigene Geneaologie. Sie kennt wohlgehütete Geheimnisse über Herkunft, Abstammung, Inzest, Vergewaltigungen und die hieraus entstandenen Familienbeziehungen des Reservats. Für Reservatsverhältnisse sind Joes Eltern wohlhabend. Sie lieben sich und ihren Sohn, den sie sehr spät und unerwartet bekommen haben, weswegen er zuweilen auch liebevoll „Oops” genannt wird. Die familiäre Atmosphäre ist harmonisch, und jeder hat seinen Platz im Gefüge: der Vater als Vorbild und Respektsperson, die Mutter als starkes und liebendes Bindeglied, die mit ihrer Fürsorge und ihrer Routine den Mittelpunkt bildet, und Joe, der sich als Kind geliebt und umsorgt fühlen kann.
An dem verhängnisvollen Sonntag wird Joes Mutter brutal vergewaltigt. Ab diesem Zeitpunkt ist sie nicht mehr die Person, die sie einmal gewesen ist: Ängstlich zieht sie sich immer mehr in sich zurück, sie schweigt stoisch zu der Tat und hilft nicht bei den Ermittlungen. Sie kann weder Mutter noch Ehefrau sein, sie liegt nur noch schlafend oder halbwach in ihrem Bett und isst kaum noch etwas. Die Haustüre ist auf einmal verschlossen, keiner kocht, keiner backt mehr, die Milch im Kühlschrank wird sauer. Alles kommt zum Stillstand, das Leben läuft aus dem Ruder, denn die Mutter war das taktgebende Herzstück der Familie.
Joes Vater ist ein Kämpfer für die Gleichberechtigung der indianischen Ureinwohner. Jedoch ist der legale ‚Weg des Rechts‘ ein sehr frustrierender Weg, denn er ist mühsam und langwierig. Straftaten, die von Weißen auf Stammesland begangen werden, dürfen nicht nach indianischem Recht geahndet werden. Joe muss erkennen, dass sein Vater sich als Stammesrichter ausschließlich mit Bagatelldelikten der indigenen Bevölkerung auseinandersetzt und dass die fehlende Zuständigkeit ihn oft an der Ausübung des Rechts hindert. Joe fehlt den Fällen die ‚Erhabenheit‘: Sein Vater „bestraft Hotdogdiebe und begutachtet Unterlegscheiben”. Dies bringt Joe in einen Konflikt, der Vater büßt seine Funktion als Vorbild ein, und Joes Welt gerät noch weiter ins Wanken.
Joe ist schnell klar, dass es nur einen Weg gibt, seiner Mutter zu helfen: Der Täter muss gefasst werden. Da er das Vertrauen in seinen Vater und das mit ihm verbundene Rechtssystem verloren hat, beschließt er, mit seinen drei Freunden Cappy, Angus und Zack die Ermittlungen auf eigene Faust aufzunehmen. Hierbei begleitet der Leser die drei Jungen durch ihren Sommer, der dann doch nicht nur im Zeichen des Verbrechens steht. Für die Jungen ist es auch eine Zeit des Erwachsenwerdens – mit allem, was dazu gehört. Erdrich gelingt es, tragische und komische Momente gekonnt ineinander übergehen zu lassen. Die Jungen lieben „Raumschiff Enterprise“, philosophieren über ihre Penisse, trinken Bier und stibitzen Zigaretten. Cappy, der indianische Schönling unter ihnen, ist Joes bester Freund. Die beiden gehen miteinander durch dick und dünn, und Cappy würde für Joe wirklich alles tun – was er im weiteren Verlauf der Geschichte auch unter Beweis stellt. Neben der Kriminalgeschichte entwickelt sich so zusätzlich eine unbeschwertere, leichtere Erzählung, die sowohl das Erwachsenwerden des Protagonisten schildert als auch das Reservatsleben eingehend nachzeichnet.
Alle Figuren werden von der Autorin mit viel Liebe zum Detail zum Leben erweckt und dem Leser mehrdimensional, farbenfroh und sehr lebendig vor Augen gestellt. Da ist z. B. der alte Mooshum, der nach eigenen Angaben 112 Jahre alt ist, gern zotige Sprüche klopft und am liebsten Whiskey trinkt, von seiner Enkelin Clemence, bei der er wohnt, aber immer nur Sumpftee zu trinken bekommt und deshalb aus Trotz in die Spüle uriniert. Oder Randall, der als Medizinmann und Powwow-Tänzer die Frauenwelt bezirzt und von allen nur „Birkenstock” genannt wird, seit eine deutsche Touristin mit eben diesen Schuhen wochenlang in seinem Vorgarten kampiert hat. Im Roman wird dabei sehr freizügig und auf humorvolle Weise mit dem Thema Sexualität umgegangen: Seien es Oma Thunders oder auch Mooshums haarsträubende Geschichten über ihre sexuellen Eskapaden in ihrer Jugendzeit oder Joes Anbetung der Brüste seiner Tante Sonja – in dem Roman wird kein Blatt vor den Mund genommen.
Das Reservat scheint wie eine große Familie zu sein, und offenbar ist irgendwie auch jeder mit jedem verwandt. Die Erzählung ist durchweg mit kleinen Anekdoten über die Reservatsbewohner geschmückt, sodass der Leser einen lebendigen Einblick in die Traditionen und überlieferten Mythen der Indianer, vor allem auch in ihren Alltag erhält. So wird zum Beispiel die Geschichte erzählt, wie Randall in seiner Schwitzhütte statt einer Kräutermischung aus Versehen Chilipulver auf die heißen Steine gibt – woraufhin die Hütte explodiert und eine Schar nackter, prustender Indianer zum Vorschein kommt. Durch solche Schilderungen entsteht ein humorvolles und doch authentisches Bild des Reservatslebens, frei von esoterisch verklärenden Zügen.
Immer wieder flicht Erdrich das zentrale Thema Recht und Gerechtigkeit mit ein. Man erfährt, dass vor 1978 Indianer ihre Religion nicht ausüben durften, und wird oft Zeuge von Diskriminierungen, so zum Beispiel, als sich eine schwangere, weiße Frau verachtend und boshaft über Joes Mutter äußert, als diese gepeinigt und misshandelt ins Krankenhaus gebracht wird. Im Fortgang der Geschichte wird immer deutlicher, welche Brutalität hinter dem Angriff auf Joes Mutter gesteckt hat. Sie wurde vergewaltigt, zusammengeschlagen und in Tötungsabsicht mit Benzin übergossen. Joe erfährt Stück für Stück mehr, und ihm wird klar, mit wie viel Mut und Glück es seiner Mutter zu fliehen gelang.
Der Täter wird letztendlich gefasst, jedoch kann er rechtlich nicht belangt werden, denn die Tat wurde beim „Rundhaus“ begangen, und weil dort drei Arten von Land zusammentreffen – Stammesland, staatliches Land und Privateigentum –, scheint dort rechtlich Niemandsland zu sein. Da man nicht weiß, auf welchem Territorium das Verbrechen genau geschah, ist die Zuständigkeit nicht geklärt. Noch immer hat ein Gesetz aus dem Jahr 1823 Gültigkeit, nach dem Nicht-Indianer nicht für Verbrechen auf indianischem Land belangt werden können. Das unmenschliche Verbrechen ist also „jenseits des Zuständigkeitsbereiches” verübt worden. Über die allgegenwärtige Ungerechtigkeit baut sich im Laufe der Geschichte eine derart unkontrollierbare Wut in Joe auf, dass er schließlich eine weitreichende Entscheidung fällt. Zu spät wird ihm klar, wie wichtig die für ihn anfangs so wenig ‚erhabene‘ Rechtsarbeit seines Vaters ist.
Erdrich lässt ihren Protagonisten die Geschichte seines Sommers 1988 aus einer weiten Rückschau erzählen. Dessen Sprache ist dabei sehr distanziert gehalten, gleichwohl ist sie oft auch sehr poetisch. Nur in Bruchstücken erhält man Einblicke, was nach diesem Sommer 1988 geschehen ist: wen Joe geheiratet hat, wie sein Vater gestorben ist – und dass er inzwischen selbst ein erfolgreicher Staatsanwalt für Menschen indigener Abstammung geworden ist.
In Joes Ich-Erzählung bindet Erdrich noch andere Texte und Erzählungen mit ein. Zu Anfang werden, was die Realitätsfiktion der Geschichte erhöht, Dokumente von Fällen, denen Joes Vater als Richter vorstand, wortgetreu wiedergegeben. An anderer Stelle fungiert Joe als Sprachrohr: Er wird Zeuge, wie Mooshum im Schlaf die alte Ojibwa-Legende vom Trickster Nanapush erzählt, die er in Gänze wiedergibt. Schließlich bettet Erdrich in Joe Coutts Erzählung noch eine zweite Geschichte ein, und zwar die von Linda Wishkob, der Schwester des Peinigers. Linda sitzt bei Joe zu Hause in der Küche und erzählt ihre traurige Lebensgeschichte, die auch Aufschluss gibt über die Beweggründe des Täters.
Louise Erdrich wird von Kritikern oft als Chronistin der amerikanischen Ureinwohner betrachtet. Sie wuchs selbst als ‚halbe‘ Ojibwa-Nachfahrin in einem Reservat auf. „Das Haus des Windes“ ist bereits ihr vierzehnter Roman. „The Round House“, so der Originaltitel, wurde 2012 als bester Roman mit dem National Book Award ausgezeichnet, dem neben dem Pulitzer-Preis renommiertesten Literaturpreis der Vereinigten Staaten.