Güntner, Verena: Es bringen
Ich bin der Trainer und ich bin die Mannschaft
von Anika Straub (2014)
Luis ist sechzehn Jahre alt und lebt mit seiner Mutter in einer Wohnung im obersten Stockwerk eines Hochhauses. Auf den ersten Blick erscheint der Protagonist in Verena Güntners Debütroman „Es bringen“ als ein gewöhnlicher Junge seines Alters, für den die wichtigsten Themen seines Lebens „Ficken”, „Saufen” und die eigene Clique sind. Doch schnell wird klar, dass Luis in mancher Beziehung ganz anders ist.
Er ist Teil einer Jungsclique, die sich zum Trinken und ‚Abhängen‘ trifft. Milan ist der Chef und der Coolste von allen, das weiß jeder, und Milan weiß es auch. Deshalb hat er auch immer das letzte Wort. Er ist zwanzig, gut in Mathe und in Sport. Luis liebt und vergöttert Milan, er würde alles für ihn tun. Seine Zuneigung bekundet er ihm schon mal mit Sätzen wie “Schade, dass Du keine Titten hast […], ich würde dich voll ficken”.
Luis ist ein Schönling, der ohne Probleme Mädchen ‚rumkriegt‘. Seinen Alkoholkonsum finanziert er mit „Fickwetten“ – er und Milan gegen den Rest der Jungs. Die Jungs suchen das Mädchen aus, das Luis an Ort und Stelle ‚flachzulegen‘ versuchen muss. Gelingt ihm das, bekommt er den Einsatz der anderen, gelingt es ihm nicht, bekommen die anderen den Wetteinsatz ausgezahlt. Da Luis aber sehr erfolgreich ist bei dem, was er tut, gewinnt er fast immer. Luis ist in der Clique nach Milan der zweite Chef, und diese Position hat er sich hart erkämpft, nicht zuletzt deshalb, weil alle Jungs außer Milan sexuell unerfahren sind, sodass Luis für sie eine begehrte Informationsquelle ist. Milans „Oberstübchen-” und Luis „Boxershortsmaterial” machen die beiden in Luis‘ Vorstellung zu einem perfekten Team.
Luis wird von einer Art zwanghaftem Perfektionismus getrieben. Er hat eine genaue Vorstellung von sich selbst, und um diese Perfektion zu erreichen, trainiert er täglich. Sein Lebensmotto ist: „Ich bin der Trainer und ich bin die Mannschaft“ – der Trainer, der innere Anpeitscher, der weiß, wie es richtig gemacht wird, und die Mannschaft, die noch unsicher ist und der Anleitung bedarf. Luis erlaubt sich nicht, schwach zu sein, er darf nicht aufgeben, er darf sich nicht von seiner Angst unterkriegen lassen. Der Trainer ordnet an, die Mannschaft ordnet sich unter, und am Ende folgt der Triumph. Wenn er genug Geld aus den „Fickwetten” zusammen hat, möchte Luis sich sein Motto auf Englisch quer über die Schultern tätowieren lassen. Doch wenn er über sich selbst triumphiert, sind seine „Trainerschwingen” auch schon ohne das Tattoo zu spüren.
Im Laufe des Romans wird immer deutlicher, dass Luis massive psychische Störungen hat, auch wenn dies nicht explizit so formuliert wird. Er wird von zwanghaften, neurotischen Verhaltensweisen beherrscht, die für ihn völlig normal zu sein scheinen. Luis muss alles kontrollieren, und sämtliche Tätigkeiten müssen einem bestimmten Plan oder Regelwerk folgen. Dies fängt bei gemeinsamen Unternehmungen mit den Jungs an. Das „Saufen“ oder, wie Milan gerne sagt, das „ERSAUFEN” folgt einem genauen Plan: In Stufe eins trinken sie Bier, und in der letzten Stufe kommen die Schnäpse. Sogar beim gemeinsamen Wettpinkeln, das immer auf Stufe eins folgt, gibt es eine feste Ordnung, wer wo an welchem Baum zu stehen hat. Diese neurotischen Anwandlungen gipfeln im Umgang mit sich selbst: Luis zählt seine Muttermale und prägt sich alles an seinem Körper ein, er versucht sogar mehrmals, die Anzahl seiner Kopfhaare zu ermitteln. Schließlich beginnt er, seine Haut mit seinem Kindermesser dünner zu schaben, um sehen zu können, was sich darunter verbirgt, denn er hält es nicht aus, dass unter seiner Haut etwas ist, das er nicht sehen und somit nicht kontrollieren kann.
Die Beziehung zu seiner Mutter Susanne ist ebenfalls deutlich gestört und trägt stark ödipale Züge. Susanne ist 32 Jahre alt und nach Luis‘ Aussagen ziemlich „heiß“. Für ihn verblassen alle Mädchen neben ihr: „Diese Frau gilt es zu schlagen, Girls. Diese Frau, nur dass ihr‘s wisst”. Der Umgang der beiden miteinander erinnert auf Grund der häufig sexuellen Anspielungen und der tabulosen körperlichen Nähe eher an eine Paar-, denn an eine Mutter-Sohn-Beziehung. Zum Beispiel hüpft die Mutter an Luis hoch und umschlingt ihn mit den Beinen, er putzt ihr mit seiner Zahnbürste die Zähne, und sie spielt an seinen Brusthaaren herum. In ihrem Auftreten, ihrem Gebaren und ihrer Sprache erweckt Susanne den Eindruck, selbst noch jugendlich zu sein, und erst allmählich erschließt sich, dass sie nie auch nur ansatzweise eine unbeschwerte Jugend hat genießen können und sich von einem Wildfremden hat schwängern lassen, nur um der heimischen Misere, verkörpert in dem gewalttätigen Vater, zu entkommen.
Luis greift seine Mutter nie offen an, macht ihr nie Vorwürfe, obwohl Susanne ihren Sohn in dessen Kinderjahren schrecklich vernachlässigt haben muss. Immer wieder erzählt Luis von Allan, einem früheren Geliebten der Mutter, der ihn massiv körperlich und seelisch misshandelt hat. Nie hat Luis‘ Mutter in solchen Situationen für ihren Sohn Partei ergriffen, sich schützend vor ihn gestellt, allenfalls hat sie ihn aus dem Haus und zu der Ponystute Nutella geschickt, wo der Junge zu bleiben hatte, bis sich ihr tyrannischer Freund wieder beruhigt hatte. Der gemeinsame ‚Running-Gag‘ von Luis und seiner Mutter „Ich geh zum Jugendamt, wenn das so weitergeht!“ bekommt dadurch einen deutlich ernsteren und unangenehmen Beigeschmack.
Es gibt viele Stellen im Roman, die darauf hinweisen, dass Luis sehr einsam ist und Halt sucht, den er weder von seiner Mutter noch seinen Freunden bekommt: Er hat einen ‚Stammplatz‘ in der Kirche, die er stets außerhalb des Gottesdienstes aufsucht, und es wird immer wieder seine Beziehung zu Gott angesprochen. Diese ist ganz und gar ichbezogen, wie wir aus seinem ‚Glaubensbekenntnis‘ erfahren: „‚Logisch, ohne Ende glaube ich an Gott! Zwischen zwei Stößen rufe ich ‚Hallo‘ zur Zimmerdecke und hoffe, dass es oben am Himmel ankommt. Ich stelle mir vor, wie Gott lacht und mir als Lohn für die harte Arbeit einen Orgasmus runter schickt.”
Außer zu Susanne und Milan scheint es in seinem Leben keine tiefergehenden Beziehungen zu anderen Menschen zu geben. Aus seiner Clique wird nur Marco, die ‚Nummer Drei‘ hervorgehoben, die Übrigen sind „die Anderen”. Auch sie kommen zwar in Luis‘ Leben vor, sind aber im Grunde beliebig austauschbar, sodass der Leser ihre Namen erst am Ende des Buches erfährt. Frauen sind – Susanne ausgenommen – für Luis nur Objekte, die auf ihre körperlichen Attribute und ihre Leistung beim Sex reduziert werden. Luis spricht mit niemandem über seine Gedanken und Gefühle, alles kratzt immer nur an der Oberfläche. Dabei ist er nicht unsensibel, wie sein präzises Erkennen von Marcos Gefühlswelt zeigt, auch wenn er diese Einfühlung mit rauen Sprüchen kaschiert. Die liebevollsten Gedanken hat er Nutella gegenüber, mit der ihn seit seiner Kindheit ein gutes Verhältnis verbindet. Dieses Geheimnis wird von ihm aber wohlgehütet, denn das „kann ja auch schwul oder weicheimäßig rüberkommen“.
Dennoch scheint für Luis sein Leben in Ordnung zu sein, bis es eines Tages zur Katastrophe kommt. Was sich dem Leser durch sich mehrende Andeutungen bereits nach und nach aufgedrängt hat, bleibt Luis über längere Zeit verborgen: Milan und Susanne haben ein zumindest sexuelles Verhältnis. Selbst als sich Milan nach mehreren Anläufen dem Freund offenbart: “Wir ficken, ich und Susanne”, begreift Luis nicht: „Welche Susanne?“ Luis‘ Mutter schweigt, wie sie immer geschwiegen hat, wenn es um wichtige Dinge ging. Für Milan hat sich das Thema mit dem Ansprechen erledigt; sein Ausscheren aus der Clique ist auch ein äußeres Zeichen für die neue Personenkonstellation. Für Luis bedeutet die neue Lage eine Katastrophe: Er hat gleichzeitig sein geliebtes Vorbild und seine angebetete Mutter verloren. Sein ganzes Leben gerät aus den Fugen, und er weiß nicht mehr ein noch aus. Die bis dahin noch unter der Oberfläche befindlichen psychischen Probleme werden auf einmal manifest: Als er Milan nackt bei sich zu Hause im Bad begegnet, dreht Luis endgültig völlig durch. Er steckt Milan die Zunge in den Hals – „und plötzlich, da ist es ganz deutlich: So schmeckt sie also, so schmeckt Ma. Da unten.“ Er rennt zu seiner Mutter ins Schlafzimmer, wirft sich nackt auf sie und stürzt anschließend aus dem Haus. Er bricht in die Schule ein, wird dort nackt und schlafend von seinem Sportlehrer Knittel gefunden, den er mit einem Messer bedroht und entführt. Es wird jedoch schnell klar, dass der Lehrer sich freiwillig entführen lässt: Das Messer ist stumpf, und „[d]ass Knittel so ein Brecher ist, war mir irgendwie nicht klar“. Knittel erkennt, dass Luis diesen Ausbruch benötigt, um sich wieder zu fangen.
Im Laufe der Entführung macht Luis eine Wandlung durch, die ihn seinen ‚Trainer‘ verlieren lässt. Der Leser ist nun gewillt zu glauben, dass Luis zu mehr Selbstbewusstsein gefunden hat, gereift und jetzt bereit ist, neurotische und ungute Verhaltensweisen der Vergangenheit angehören zu lassen. Jedoch wird diese Hoffnung von Verena Güntner auf der letzten Seite wieder gedämpft, indem sie Luis gedanklich da weitermachen lässt, wo er vor der Entführung aufgehört hat. Auf der anderen Seite hat Luis seine – immer wieder als Metapher bemühte – Höhenangst abgelegt: „Die Angst vor der Höhe weicht aus und macht Platz.“ Platz wofür? Aus dem sonst immer verwendeten Gruppen-‚Wir‘ wird in den Schlusssätzen ein ‚Ich‘ – ein Hinweis auf Luis‘ begonnenen Weg zu sich selbst? Der Schluss der Geschichte bleibt in der Schwebe und lässt den Leser etwas ratlos zurück.
Weite Partien des Romans sind in direkter Redewiedergabe gehalten, wodurch eine vernehmliche Unmittelbarkeit hervorgerufen wird. Einen vergleichbaren Effekt erzeugen die inneren Monologe, die einen Großteil der Erzählerrede ausmachen. Des Öfteren wird der Leser direkt angesprochen, so als ob Luis seine Geschichte, seine Einstellungen und Vorstellungen jemandem direkt erzählte. Dies steht in Diskrepanz zu den Gesprächen, die er mit den Menschen seines Umfeldes führt: So wenig er ihnen zu sagen hat, so viel hat er dem impliziten Leser mitzuteilen. Einige Erzählerrückblicke lassen den Leser Luis‘ Gefühlswelt besser verstehen, doch auf Grund der mangelnden Kommunikation bleibt dieses Verständnis bei seinen Mitmenschen aus.
Güntner legt ihrem Erzähler eine bisweilen fast poetische Sprache in den Mund, die von Bildern und Metaphern lebt. Akronyme wie „HA“ für „Höhenangst“ oder „EPIDSP“ für „Ein-Pole-in- Deutschland-Sein-Problem” finden sich häufiger, auch Wortneuschöpfungen wie z. B. „Sonnenuntergangsasthmatiker” kommen vor. So entstehen Passagen mit Wortwitz, die dem Leser Spaß bereiten könnten, wäre da nicht dieser durchgängig sexualisierte Ton, der die Erzählersprache als barbarisch, ordinär und Frauen abwertend erscheinen lässt. Soll dies die authentische Sprache eines Sechzehnjährigen sein? Dass nicht nur die Jungsclique einen übersexualisierten Sprachgebrauch pflegt, sondern dieser auch den Gedanken des Protagonisten den Stempel aufdrückt, mag den Grund darin haben, dass Luis durch seine Sprache erwachsener erscheinen möchte, als er tatsächlich ist, aber auch darin, dass er Sprache wie einen Panzer benutzt, der keinen an seinen Gefühle heranlässt und seine Traumata und Probleme verborgen hält.
Verena Güntner ist in den Buchkritiken häufig für ihre Fähigkeit gelobt worden, sich in einen sechzehnjährigen Jungen hineinversetzen zu können. Dabei wird der Eindruck erweckt, der Roman präsentiere uns das Bild eines ‚normalen‘ Sechzehnjährigen. Nähme man zur Kenntnis, dass Luis psychisch offenkundig sehr instabil ist, dass er teilweise gestört wirkt, käme man dem Protagonisten in Güntners Roman sicherlich näher.