Führmann, Franz (Text) und Kristina Andres (Illustration): Lob des Ungehorsams
Fairytale recycled
von Lina Weber (2014)
Sieben Geißlein leben mit ihrer Mutter in einem Haus am Waldrand. Hier dürfen sie alles tun, was sie möchten. Nur die Standuhr bleibt ihnen verwehrt, sie könnte ja beschädigt werden. Doch eines der Geißlein erkundet trotz des Verbotes der Mutter die Uhr, und als eines Tages der Wolf in das Haus eindringt, weiß es daher ein sicheres Versteck: den Hohlraum der Standuhr. Während alle seine Geschwister vom Wolf gefressen werden, überlebt das siebte Geißlein den Überfall ...
Der Ausgang dieser Geschichte sollte für all jene vorhersehbar sein, die das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein kennen. Es handelt sich bei dem Bilderbuchtext allerdings nicht um die Fassung der Brüder Grimm, sondern um eine aus dem Jahr 1962 stammende Nachdichtung des DDR-Autors Franz Fühmann. Für die Neuveröffentlichung des Textes im Rostocker Hinstorff Verlag im Sommer 2013 fertigte die Illustratorin und Kinderbuchautorin Kristina Andres elf meist doppelseitig angelegte Illustrationen an. Das Bilderbuch ist als großformatiges Hardcover im Hochformat erschienen.
Bild und Text stehen in einem sich gegenseitig erweiternden Verhältnis zueinander, wobei die Bilder meist ein wenig mehr zeigen, als der Text preisgibt. So wird etwa auf Seite 11 die Enttäuschung der Mutter über den Ungehorsam des siebten Geißleins ausschließlich über ihr Brustbild auf der linken Seite deutlich — der Text („da hat es die Uhr verdorben, wie es die Mutter gesagt“) verrät nichts über ihre emotionale Reaktion. Am Anfang sowie am Ende der Geschichte übernehmen die Bilder die alleinige Erzählfunktion. Während auf der ersten Doppelseite lediglich der Protagonist und der Ort visuell eingeführt werden, wird in den Illustrationen auf den letzten beiden Seiten wortlos die Handlung fortgesetzt. Nachdem auf den Seiten zuvor die Mutter ihr siebtes Geißlein im Uhrenkasten gefunden hat, wird auf diesen letzten beiden Seiten nun ein Plan zur Errettung der restlichen jungen Geißlein geschmiedet. Die Bilder zeigen das überlebende Geißlein mit einer riesigen Schere, mit der es der Mutter entgegenläuft. Diese streckt schon die Arme nach ihrem Kind aus. Die freudigen Gesichter der beiden deuten an, dass es bereits einen Plan und damit Aussicht auf eine baldige Befreiung der Geschwister gibt. Die Idee scheint von dem siebten Geißlein zu stammen, von dem auch der Bewegungsimpuls ausgeht. Falls Kenntnisse des Ausgangsmärchens vorhanden sind, kann der Leser ahnen, was im nächsten Bild zu sehen sein wird. Gespannt blättert er die Seite um und findet, unter dem Impressum, ein Bild des Wolfes. Mit auf dem Bauch gefalteten Tatzen und heraushängender Zunge liegt er auf dem Rücken und wirkt eher klein und zerbrechlich. Eine rote Naht auf seinem Bauch verrät, dass die Geißlein schon befreit sind. Wer noch eine Seite weiterblättert, entdeckt – nach dieser eigentlich letzten Seite – eine visuelle Fortsetzung auf der Einbandinnenseite: Mutter Geiß fährt mit all ihren Kindern in einem gelben Auto davon. Die überdimensionale Schere und das rote Garn auf dem Autodach verweisen noch auf die vorangegangene Rettungsaktion.
In „Lob des Ungehorsams“ werden die Geißlein wie Kinder dargestellt: Sie gehen auf zwei Beinen und tragen Kinderkleidung. Außerdem besitzen sie Spielzeug, wohnen mit ihrer Mutter in einem Haus, es gibt ein Auto, Möbel, einen Fernseher und Verbote. Diese Vermenschlichung der Geißlein und die teilweise Anpassung ihrer Umgebung an heutige Gegebenheiten macht es kindlichen Lesern möglich, sich mit den Protagonisten zu identifizieren. Im Kontrast dazu tauchen märchenhafte Elemente auf wie der Wald(-rand), Pilze, Blumen und sprechende Tiere. Die Charakteristika zweier Welten, einer Märchenwelt und einer der gegenwärtigen ähnlichen Welt, werden illustrativ gelungen zusammengeführt.
Kristina Andres‘ Illustrationen sind in einer Mischtechnik aus Tusche- und Buntstiftzeichnung sowie Aquarellmalerei gestaltet und nehmen jeweils die ganze Seite ein. Die Zeichnungen bestehen aus vielen kleinen Strichen und Schraffuren, was besonders die verschiedenen Oberflächen und Fellstrukturen authentisch wirken lässt. Der Farbauftrag erscheint bei den Pflanzenstängeln und -blättern sowie manchen Bäumen flächig und deckend, beim Waldboden und dem Boden im Haus hingegen eher lasierend. Hier sieht man noch deutlich, wie die Aquarellfarben verlaufen sind. Andres hat natürlich wirkende Farben verwendet, die einen hohen Anteil von Grün-, Braun- und Beigetönen aufweisen, was dem Farbspektrum der Waldumgebung entspricht. Alles in allem wirken die Bilder durch die helle Farbgebung meist freundlich, in ein paar Szenen wird jedoch der Raum um das Geschehen herum durch eine bräunliche Buntstiftschraffur verdunkelt. Dadurch entsteht der Eindruck, das Geschehen sei vom Rest des Raumes losgelöst und die Szene selbst werde ins Scheinwerferlicht gerückt. In den einzelnen Bildern gibt es viele Details zu entdecken, wie zum Beispiel das Spielzeugauto des Protagonisten, das eine eigene kleine Geschichte durchläuft.
Eine Frage bleibt am Ende bestehen: Warum hat der Wolf schon auf Seite 14, die ihn vor dem ‚Überfall‘ auf die Geißlein zeigt, eine rote Naht im Fell? Hat hier die Illustratorin einen metatextuellen Hinweis auf die Verbindung zum Ursprungstext versteckt? Die Naht löst ein Moment des wiedererkennenden Erinnerns aus: Der Wolf ist schon einmal hier gewesen. Und es sind offenbar auch schon einmal Geißlein aus seinem Bauch befreit worden. Das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein ist schon oft erzählt worden — in „Lob des Ungehorsams“ wird es einmal mehr erzählt, und zwar in eigener Form und mit eigener Akzentuierung. Der Wolf jedoch bleibt der alte.
Die Geschichte vom Geißlein, das sich der Mutter widersetzt und dadurch wichtige Kenntnisse erlangt, formuliert schon im Titel des Bilderbuchs eine Kampfansage an repressive Erziehungsstile. Etwas fragwürdig ist dabei die Verwendung der bloßen Umkehrung einer Pädagogik der Vergangenheit. Es heißt nun nicht mehr: Ungehorsam wird bestraft und Gehorsam belohnt, sondern in diesem Bilderbuch wird gefressen, wer artig ist — wer jedoch ungehorsam ist, überlebt. Wenn wir an die Verwandtschaft des Textes mit dem Märchen zurückdenken, können wir dies eventuell verzeihen, gleicht diese Art der ‚Pädagogik‘ doch der märchentypischen plakativen Unterteilung der Welt in Gut und Böse – nur, dass die altbekannte Ordnung kräftig durcheinandergebracht wird. Kinder lernen: Es kann von Vorteil sein, nicht ausnahmslos auf alles zu hören, was Erwachsene sagen. Somit kann das Bilderbuch einen Beitrag zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins leisten, zur Entwicklung ihres kritischen und unabhängigen Denkens.
„Lob des Ungehorsams“ ist ein schönes Bilderbuch, das einen alten Text und neue Bilder gelungen zusammenbringt. Entsteht dadurch ein neuer Text? Natürlich! Aber auch der alte Text wird im neuen noch einmal miterzählt. Wenn wir an die Naht auf dem Bauch des Wolfes zurückdenken, muss die Antwort zur Möglichkeit eines neuen Textes also lauten: ja und nein.