Heckmanns, Martin (Text) und Stefanie Harjes (Illustration): Konstantin im Wörterwald
Stolz statt Stottern
von Kira Wigger (2014)
Im August 2011 startete der Münchner Verlag „mixtvision“ seine Kinderbuch-Reihe „Dramatiker erzählen für Kinder“, in der bekannte Autoren der aktuellen Theaterszene Geschichten für Kinder veröffentlichen. „Dramatiker“, so der Verlag in einer Pressemitteilung, „schreiben oft reduzierter, konzentrierter als Prosaautoren. Dies ist ideal für das Kinderbuch, das von Kürze und Klarheit profitiert.“ Das auf dem deutschsprachigen Buchmarkt einzigartige Konzept kann mit Fug und Recht als literarisches Experiment bezeichnet werden. Dieser Anspruch vermittelt sich bereits im Äußeren der Reihe: Ein grauer Pappeinband mit farbigem Leinenrücken sowie Fadenheftung sind sicherlich keine typischen Ausstattungsmerkmale eines Kinderbuches. Ein verbindendes Element zwischen den einzelnen Titeln schaffen auch die großflächigen, jeweils zweifarbigen Tusche- oder Strich-Zeichnungen der unterschiedlichen Illustratoren.
Nachdem Marianne Freidig, Jan Neumann, Almut Baumgarten und Philipp Löhle sich mit ihren Prosatexten empfohlen haben, ist nun Martin Heckmanns, der „Sprachphilosoph unter den jüngeren Dramatikern“ (Deutschlandfunk), an der Reihe, für Kinder zu erzählen. „Konstantin im Wörterwald“ heißt seine Geschichte.
Konstantin ist ein kleiner zierlicher Junge, der Probleme mit dem Sprechen hat. Er stottert und hat manchmal sogar Angst vor dem Sprechen. Seine abstehenden Ohren scheinen dafür umso sensibler zu sein. Ebenso ausgeprägt ist sein Sinn für das Lesen und für Geschichten, denen er sich gerne hingibt, um in völlig andere Welten getragen zu werden. Beim Lesen und auch beim Schreiben stottert Konstantin nicht. Besonders gut am Schreiben gefallen ihm die Lettern, die wie „Leitern“ sind und ihn immer wieder auf neue Gedanken und Einfälle bringen. Deshalb wünscht er sich, Schriftsteller zu werden, und beginnt, eine Geschichte niederzuschreiben. Der Junge fantasiert, spielt mit Worten, Lauten und Sätzen und ist stolz auf sich, dass er diese auf einmal beherrscht. Er schreibt sich in eine Fantasiewelt hinein, in der er doppelt so groß ist wie im wirklichen Leben, mit den Tieren des Waldes ohne zu stottern sprechen kann und plötzlich von einem Lied tiefer in den Wald gelockt wird. Er lernt eine Eintagsfliege ohne Namen („Das lohnt sich nicht für einen Tag“) kennen, die ihm den Weg in das Innere des Waldes zeigt, und so macht er sich auf die Suchwanderung, um herauszufinden, woher das Lied kommt.
„Konstantin“ erscheint dem Leser in zweifacher Gestalt: Einmal ist da der kleine, stotternde Junge mit seiner Vorliebe für Geschichten. Zum anderen gibt es den heranreifenden Knaben, der durch die Fantasiegeschichte des Jungen zum Leben erweckt wird, als dieser eines Abends im Bett liegt, nicht schlafen kann und daher in sein Buch zu schreiben beginnt: „Er öffnete das weiße Buch, das er zu seinem letzten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und nannte sich Konstantin darin, denn Konstantin klang in seinen Ohren groß und mutig und selbstbestimmt. Auch wenn er in Wirklichkeit anders hieß. Aber von der Wirklichkeit wollte er sich seine Geschichte nicht vorschreiben lassen.“ Es gibt somit den vom Erzähler vorgestellten Konstantin, der eigentlich gar nicht so heißt, und den Konstantin, den der namenlose Protagonist selber erschafft. In der Geschichte, die der namenlose Protagonist erfindet, begegnet Konstantin verschiedenen Tieren wie einem Aal und einer Blindschleiche. Sie begleiten ihn ein Stück Weges, geben ihm neue Denkanstöße und helfen ihm bei seiner Suche nach dem Lied. Schließlich findet Konstantin das Mädchen, das ihn durch den Gesang in den Wald gelockt hat. Bei seinem Anblick reagiert er mit einem bloßen „O“. Deshalb nennt er das Mädchen auch so.
Am Ende kommt es zu einer Überschneidung der beiden Erzählebenen: Konstantin findet nach bestandenem Abenteuer wieder nach Hause zurück und stellt seiner Mutter – ohne zu stottern – „O“ als seine Begleiterin vor. Auch wenn die Mutter das sehr kleine Mädchen nicht sehen kann, nimmt sie es dennoch auf: „Sie scheint dir zu helfen.“ Anders als beim Anfang, als er begonnen hat, seine Geschichte zu schreiben, liegt der Protagonist in dieser Situation nicht mehr im Bett. Es kommt somit zu einer Überlappung der Welt, die der Erzähler dem Leser vorgestellt, und der Fantasiewelt, die der namenlose Protagonist geschaffen hat. Die Geschichte endet schließlich damit, dass der Leser direkt angesprochen und damit selber zum Bestandteil der Geschichte wird: „Und Konstantin dankt Dir, lieber Leser, dass Du ihm so lange zugehört hast. Du hast ihm geholfen, hierher zu kommen. [...] Du warst bei ihm, wenn er sich alleine gefühlt hat auf seiner Reise. Und er hat sich beschützt gefühlt von Deiner Aufmerksamkeit.“ Nicht nur der Inhalt der Sätze wirft Fragen auf; der Leser bleibt auch im Unklaren, wer ihn anredet: der Erzähler? der namenlose Protagonist?
Die Entwicklung, die der Protagonist in der Geschichte durchläuft, ist rasant und eindrucksvoll. Zu Beginn hat er ein großes Problem mit der Sprache und dem Sprechen. Die Reise durch seine Fantasiewelt zeigt Konstantin, wie mächtig Sprache ist und wie vielseitig man mit ihr umgehen kann. Er kann sich ausprobieren, kann Fremdwörter benutzen und mit den Tieren kommunizieren. So heilt er seinen Sprachfehler letztendlich durch Sprache selbst.
Die Figur des Protagonisten weist Unebenheiten auf, die den Leser ins Stocken geraten lassen könnten: Konstantin ist sehr redegewandt und reflektiert auf einem hohen Niveau über Sprache. Wie alt er ist, erfährt man nicht, aber sein Wissen geht nicht damit überein, dass er eine Fantasiefreundin benötigt, um sein Stottern abzulegen, zumal er selber die Erfahrung gemacht hat, wie machtvoll Sprache sein kann: „Konstantin zähmte das Ungeheuer, indem er es beschrieb. Er macht es klein mit jedem Satz, in den er das Untier zerlegte. Seine Beschreibung teilte das Ungeheuer in Eigenschaften. Und so verlor es das Ungeheure.“
Konstantin hinterfragt die Bedeutungen von Wörtern, spielt mit Lauten und reimt. Dabei verliert er sich oft in Gedanken und findet nicht immer eine Antwort auf seine Fragen: „Der Fluss fließt, der Strom strömt, aber was macht der Bach, fragte er sich, aber als er es aufschreiben wollte, hatte er den Gedanken vergessen.“ Der kreative Umgang mit Sprache, das Spiel mit ihr und ihr Facettenreichtum schaffen eine poetische Atmosphäre. Begriffe und Sätze wechseln dabei zwischen solchen, die man wortwörtlich nehmen muss („Ein Schriftsteller stellt die Schrift.“), und solchen, die eine tiefergehende Auslegung benötigen, damit sie ihre volle Wirkung entfalten können: „Das Wort Wasser macht nicht nass.“
Die schwarzroten Illustrationen von Stefanie Harjes verbildlichen die Geschichte, ziehen ihr eine zusätzliche symbolische Ebene ein und verleihen dem Text so eine Tiefe, die dieser allein nicht zu vermitteln vermag. Die ersten Seiten des Buches präsentieren einen schmächtigen Jungen, der einsam und bedrückt aussieht, über dem das Stottern als ein Dämon schwebt. Es werden Sehnsüchte dargestellt: Ein Bild zeigt Konstantin im Vordergrund an einem Zaun stehend, zu einem Vogel mit einer Krone gewandt. Über ihm, auf dem Zaun, sitzt ein Junge zusammen mit einem Mädchen mit Flügeln. Ein weiteres ausdrucksstarkes Bild, auf dem Konstantin auf einem übergroßen, leeren Buch steht, verdeutlicht die ersten Schritte seiner Entwicklung: Er möchte etwas verändern. Er möchte eine Geschichte schreiben, in der er die Hauptrolle spielt und am Ende zum Helden wird. Dieser Verlauf wird analog zur Geschichte mit weiteren Illustrationen verdeutlicht.
Die Figur Konstantins ist zu Beginn des Buches kleiner gezeichnet als die Gegenstände um ihn herum. Seine innere Entwicklung wird so auch durch die Illustrationen dargestellt, ist Konstantin doch zwischenzeitlich gewachsen und größer als die Dinge in seiner Umgebung. Als er auf den böswilligen Stachelbären trifft, ist sein Mut jedoch plötzlich verschwunden, er stottert wieder und fühlt sich schwach. Auf der Bildebene wird dies dadurch markiert, dass der Stachelbär deutlich größer gezeichnet ist als Konstantin. An dieser Stelle wird die Geschichte lediglich durch den Text weitererzählt: „Aber Konstantin hatte keine Angst. Das hatte er schriftlich. Das hatte er aufgeschrieben. [...] Er gehorchte seiner eigenen Vorschrift und trat dem Ungetüm furchtlos entgegen.“
An anderer Stelle fügt die Illustration dem Text zusätzliche Bedeutung bei: Als die Eintagsfliege, die Konstantin als Freund gewonnen hat, ihren Tag verlebt hat, wird sie von einer Schwalbe davongetragen. Sie hat Konstantin und „O“ mit auf den Weg gegeben, dass sie achtgeben sollen, und so hinterlässt die Schwalbe eine „8“ in der Luft, die Konstantin und „O“ an die Eintagsfliege erinnern wird: „Und ich lebe weiter in euch, wenn ihr mich erinnert.“ Harjes Zeichnung deutet die „8“ entsprechend in ein Unendlichkeitssymbol um. Insgesamt sind ihre Illustrationen sehr symbolisch, sie sind Spiegelungen von Konstantins Seelenleben. Sie zeigen all die Dinge, die Konstantin bewegen, beschäftigen, erfreuen und beängstigen.
Die Geschichte von Konstantin im Wörterwald ist spannend und philosophisch zugleich und somit aber auch ein Kinderbuch, das vor allem leseerfahrenen Kindern empfohlen werden sollte – auch wegen einiger Unbestimmtsheitsstellen, die zusätzliche Fragen aufwerfen. Um die Freude an den Lautmalereien und Wortspielen in vollem Umfang genießen zu können, sollte das Buch laut (vor)gelesen werden. Das Buch hat eine Tiefenstruktur, die auch ein zweites und drittes Lesen benötigt, um alle Facetten der Geschichte begreifen zu können.
Die anspruchsvolle Verwendung von Sprache und die Hinterfragung der Wörter wird aber sowohl dem Vorleser als auch dem Kind, welches liest oder welchem vorgelesen wird, Freude bereiten. Es regt insbesondere zum eigenständigen Reflektieren über die Sprache und Wortspielereien an und hat somit in jedem Fall einen Mehrwert für jeden Leser.