Boianjiu, Shani: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst
No more will my green sea go turn a deeper blue
von Nadine Seidel (2014)
Was tun, wenn man achtzehn Jahre ist, die Schule beendet hat und eigentlich schnell auf die Uni möchte – aber noch den zweijährigen Wehrdienst leisten muss, der in Israel von Jungen und Mädchen verlangt wird? Was also tun, wenn man ausgerechnet den bescheuertsten Posten bekommt, den, von dem einem alle abraten? Ja, und was eigentlich tun, wenn man nach Beendigung dieser 24 Monate – unabhängig davon, welchen Posten man am Ende bekommen hatte – gar nicht mehr auf irgendeine Uni dieser Welt möchte, sondern nur noch schlafen – oder Nachbarn, die Olivenbäume getötet haben, mit Benzin übergießen will?
Der israelischen Autorin Shani Boianjiu gelingt es in ihrem Debütroman, uns unsere westliche Adoleszenz – stehen wir nun kurz davor, sind wir mittendrin oder haben wir sie soeben verlassen – auf ganz selbstverständliche Art und Weise zu spiegeln, und zwar mit allen Facetten, auf die es immer ankommen wird: Wie stehen meine Freunde zu mir? Bin ich schön? Was möchte ich später einmal werden? Wie wird das mit der Familie werden und ganz überhaupt: leben, lachen, trinken, tanzen, weinen, lieben, hassen …
Diese Ähnlichkeiten, diese Identifikationsplattformen, erweitert Boianjiu jedoch von Beginn an um eine grauenvolle Dimension des Krieges, der nahezu unauffällig eine bedrohliche Hintergrundmusik spielt: Immer mal wieder fallen während der Schulzeit irgendwo in Hörweite Granaten zwischen Bananenfeldern, fallen Mütter von Freundinnen einem Anschlag zum Opfer, bringen sich Brüder um … – und muss zum Ende einer jeden Schulzeit 24 Monate Wehrdienst geleistet werden.
Hier ändert die Autorin ihren Habitus und ist bemüht, die Absurdität und Perversion, die ein die Jugend besudelnder Krieg stets hervorbringt, aufzuzeigen: Die drei Schulfreundinnen Avishag, Yael und Lea landen auf verschiedenen Stützpunkten und erleben ganz Unterschiedliches: Avishag muss während ihrer Grundausbildung Reizgasübungen ohne Gasmasken überstehen, während sie zu ihrer Vaterlandsliebe befragt wird, Yael wird Ausbilderin an MGs, und Lea kontrolliert an der Grenze palästinensische Bauarbeiter, die ihrem Kollegen Yaniv während einer gemeinsamen Schicht nahezu den Kopf vom Rumpf abtrennen.
Es sind jedoch nicht nur die Szenen der Gewalt, die den Lesern Einblick in einen seit 1949 anhaltenden und in diesem Sommer 2014 – erneut – explodierenden Konflikt geben, es sind insbesondere die Imaginationen der Figuren, die die Fratze des Krieges, in welchen die israelische und palästinensische Zivilbevölkerung Generation um Generation hineingeboren wird, enthüllt.
Virtuos webt Boianjiu ein Geflecht aus Vor- und Rückschauen, Zufällen, Perspektivwechseln, Zeitsprüngen und Erzähltechniken: Mal wird das Schicksal von Grenzflüchtlingen pars pro toto in Gestalt des Mädchens Masha erzählt, welches Yael zusammengerollt und verpixelt auf ihrem grünen Monitor sieht, und zwar exakt zu der Zeit, als sie ihren eigenen Embryo imaginiert, den sie gerade mit einer „Pille danach“ abtreibt und der sich in ihrer Vorstellung just so zusammengekrümmt wie das angeschossene Flüchtlingsmädchen auf ihrem Bildschirm. Dann wieder wird das Eheleben eines palästinensischen Bauarbeiters phantasiert, dem derselbe Unwille, Teil des Systems sein zu müssen, zugestanden wird.
An dieser Stelle sei ein Verweis auf den 2005, deutsch 2007 erschienenen Roman „Das Mädchenschiff“ erlaubt, in welchem ein nahezu identisches Setting gewählt wurde, um das Schicksal israelischer Wehrdienstleisterinnen zu schildern: Anders als Shani Boianjiu reproduzierte und kreierte die Autorin Michal Zamir in ihrem Werk jedoch Genderklischees, die in ihrer Redundanz ein eindimensionales Leseerlebnis bescherten. „Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ hingegen erreicht in seinem Facettenreichtum auch jene LeserInnen, die durch die Flut der Gewaltbilder in den Medien abgestumpft sind und sensibilisiert zugleich dafür, welch kostbares Gut eine Kindheit und Adoleszenz ohne Kriegsgefahr darstellt.
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Der Titel der Rezension ist dem Song der Rolling Stones „Paint It, Black“ entliehen (Album „Aftermath“, 1966).