Innocenti, Roberto (Idee und Illustration) und Aaron Frisch (Text): Das Mädchen in Rot
Es war einmal in einer großen Stadt …
von Maren Andersen (2014)
Ein kleines Mädchen, ein roter Kapuzenmantel, ein Korb, ein Wald mit bunten Blumen, ein Waldhüttchen, die Großmutter, ein böser Wolf, ein braver Jägersmann, ein Happy End – all das sind Vorstellungen, die wir am ehesten mit dem Märchen „Rotkäppchen“ assoziieren. Nicht aber: eine im Chaos versinkende Großstadt, eine bedrohliche Jugendbande, ein heimtückischer Motorradfahrer. Aber mit genau diesen Versatzstücken arbeitet „Das Mädchen in Rot“, eine zeitgenössische Version des Märchens vom „Rotkäppchen“, zu der Roberto Innocenti Idee und Bilder, Aaron Frisch aber den Text beigesteuert hat.
Worum es in dem Märchen geht, ist gemeinhin bekannt. Das inhaltliche Grundkonzept der Innocenti-Frisch-Version unterscheidet sich auch nicht wesentlich von der Vorlage. Ein kleines Mädchen, hier: Sophia, macht sich, bepackt mit ein paar Kleinigkeiten, auf den Weg zu seiner Großmutter und trifft dabei auf den ‚bösen Wolf‘. Die Unterschiede liegen im Detail: Sophias Weg zur Großmutter führt sie anstatt durch einen grünen Wald mit schönen Blumen durch eine graue Großstadt voller Müll und hässlichen Graffitis. Sophia wird nicht durch das Pflücken von Blumen und das Füttern von Vogeljungen abgelenkt, sondern durch die Spielsachen in ihrem Lieblingsschaufenster. Der zunächst auffälligste Unterschied zur Märchenfassung ist, dass die eigentliche Geschichte in eine Rahmenhandlung eingebettet ist. Zu Beginn des Buches wird eine sehr kleine und alte Erzählerin gezeigt, die erhöht inmitten einer Gruppe von Kindern sitzt. „Rückt zusammen, Kinder, ich will euch eine Geschichte erzählen“, sagt sie zu Beginn des Buches.
Bei der Geschichte vom „Rotkäppchen“ denkt man wahrscheinlich zuerst an die bei uns in Deutschland geläufige Fassung der Gebrüder Grimm. Aber es lohnt sich genauer hinzuschauen. „Das Mädchen in Rot“ bezieht sich vielmehr auf die Urfassung „Le Petit Chaperon Rouge“ des Franzosen Charles Perrault, auf die auch, durch mündliche Überlieferung, die Version der Gebrüder Grimm zurückzuführen ist. Perrault formuliert in seiner Fassung eine Moral, die man durchaus auch aus „Das Mädchen in Rot“ ziehen kann. Bei Perrault heißt es zum Schluss: „Hier sieht man, dass ein jedes Kind und dass die kleinen Mädchen […] sehr übel tun, wenn sie vertrauensselig sind, und dass es nicht erstaunlich ist, wenn dann ein Wolf so viele frisst.“ Perrault unterscheidet zweierlei Typen von „Wölfen“: jene, die man auf den ersten Blick als böse erkennt und solche, die auf den ersten Blick nett und freundlich wirken und denen man sein Vertrauen schenkt. Unser Rotkäppchen Sophia begegnet in der Binnenerzählung beiden Typen von „Wölfen“: einer Gruppe rüpelhafter Jungen, die ihr Furcht einjagen und die Sophia direkt als Bedrohung wahrnimmt, und einem scheinbar hilfsbereiten Motorradfahrer, der sie aus der bedrohlichen Situation mit diesen Jungen rettet und freundlich mit ihr tut. Er repräsentiert den Typus dessen, in dem man sich täuscht und dessen böse Absicht man nicht sofort erkennt. So entpuppt sich denn der Motorradfahrer auch als der eigentlich Böse, der nicht nur mit den Rüpeln unter einer Decke steckt, sondern der sich durch Sophias unbewusste Hilfe Zugang zum Wohnwagen der Großmutter und somit letztendlich auch zu Sophia selbst verschafft: Als Sophia bei ihrer Großmutter ankommt – ihr vermeintlicher Helfer, der sie dort hinbringen wollte, hat sie unter einem Vorwand abgesetzt und ist davongefahren – erwartet diese sie nicht wie sonst an der Tür. Und als es dunkel wird, wartet Sophias Mutter zu Hause auf die Rückkehr ihrer Tochter – vergebens. Die Polizei rückt an – zu spät. Der Text deutet das Verbrechen nur an: „Es ist fast schon Morgen, als bei einer Mutter das Telefon läutet./ Kein Sonnenstrahl wird an diesem Tag durch die Wolken brechen.“
In dieser unheilvollen Situation greift die alte Erzählerin aus der Rahmenhandlung in das Geschehen ein und wendet sich an ihre Zuhörer: „Schämt euch eurer Tränen nicht, Kinder! Sie sind so natürlich wie der Regen. Aber nötig sind sie hier nicht.// Wisst ihr noch,“ – und mit dieser Wendung erinnert sie an ihre eingangs gesprochenen Worte – „wie das mit den Geschichten ist? Geschichten sind magisch. Wer sagt, dass sie nur ein Ende haben können?“ Und nun erfindet sie einen anderen, ebenfalls vorstellbaren Märchenschluss mit einem typischen Happy End, bei dem sich Sophia, ihre Großmutter und ihre Mutter glücklich in den Armen liegen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Roberto Innocenti sich einer herausfordernden Aufgabe widmet. In seinem Buch „Rosa Weiss“ aus den 1980er Jahren z. B. thematisierte er als erster Bilderbuchillustrator die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg und bekam dafür den Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Für sein Gesamtwerk wurde er 2008 mit dem renommierten Hans-Christian-Andersen Preis, dem ‚kleinen Nobelpreis‘, ausgezeichnet.
Innocenti arbeitet in „Das Mädchen in Rot“ mit zweierlei unterschiedlichen Bildtypen: mit Bildern mit eindeutigem Fokus und mit wimmelbildähnlichen Kompositionen. Ihnen ist zunächst gemein, dass sie das Leben in der Großstadt von seiner hässlichen Seite zeigen. Der Lebensraum der Städter ist in düsteren Farben gehalten. Farbe bekommt die Großstadt durch skurrile Graffitis, schreiende Reklameplakate und -projektionen, Müll auf den Straßen und durch die Menschen selbst.
Der erste Bildtypus lässt sich gut anhand der ersten Seite im Buch erschließen, die die erste Erzählebene eröffnet: Man sieht das Innere eines Raumes, in dessen Mitte ein großer Tisch steht, der an drei Seiten von Holzbänken umgeben ist. Auf dem Tisch sitzt die Erzählerin der Geschichte erhöht auf einem Stuhl, der wiederum auf einem kleinen Podest steht. Auf den Bänken sitzt eine Gruppe von Kindern, die ihr zuhören. Durch die erhöhte Position und den hellen Schein der Wolle, mit der sie strickt, steht die Erzählerin eindeutig im Fokus des Bildes. Trotzdem kann man, je länger man sich das Bild anschaut, immer mehr Details entdecken: Schräg rechts hinter der Erzählerin sieht man eine Handgranate, vor dem Podest einen Soldaten mit einer Machete in der einen und einer Pistole in der anderen Hand. In den Ecken des Raumes kann man Spinnweben erkennen, das Fenster im Raum zeigt Risse auf. Auf einem Regal liegt ein böse dreinschauender Hai mit offenem Maul, aus dem ein Kinderbein herausragt. Daneben steht ein Kasperletheater mit einer schlaff heraushängenden Räuberpuppe. Und unter dem Hai ist ein Spielzeugpanzer in Stellung gebracht. Diese minutiös wiedergegebenen, häufig Gewalt indizierenden Details (von denen hier nur wenige benannt sind) verstören den Betrachter, womit Innocenti Distanz zum Geschehen aufbaut. Dazu trägt auch der offenkundige Widerspruch zum Text bei, bemerkt doch die alte Erzählerin: „Spielsachen können Spaß machen. Eine gute Geschichte aber ist magisch.“ Aber auch das verstörende Arrangement der Spielsachen auf diesem Bild strömt eine solche Magie aus.
Was die ‚Wimmelbilder‘ betrifft, so gelingt es Innocenti mit ihnen, Hektik, Chaos, Anonymität, Desinteresse am Anderen, Konsumorientierung und Vergänglichkeit künstlerisch zu visualisieren. Auf einem zentralen Bild im Buch ist das Innere eines Einkaufszentrums, das im Text so genannte „Herz des Waldes“, dargestellt. Auf diesem Bild wird sehr deutlich, wie Innocenti es schafft, seine Aussagen künstlerisch hervorzurufen. Man sieht eine große Menge von Menschen, die alle durcheinander gehen (Chaos), einen Inlineskater, einen Jogger, einen Jungen auf einem Skateboard und eine Mutter, die ihr Kind hinter sich herschleift (Hektik). Man sieht einen als Weihnachtsmann kostümierten Menschen, der etwas geraubt zu haben scheint und mit dem Diebesgut flüchtet, und einen Mann auf Stelzen. Für beide scheint sich niemand zu interessieren (Desinteresse am Anderen). Man kann keine Menschen beisammen stehen sehen, jeder geht für sich, niemand scheint einen anderen zu kennen (Anonymität). Die Wände des Einkaufszentrums sind vor lauter Werbeplakaten und -projektionen kaum noch zu erkennen (Konsumorientierung). In der ersten Bildunterschrift heißt es: „Im Inneren ist es laut, grell, bunt und überall lauern Versuchungen.“ Durch das ‚Wimmelbild’arrangement wird eine Atmosphäre geschaffen, die auf der einen Seite ebenfalls eine gewisse Distanz heraufbeschwört und den Leser verstört, auf der anderen Seite ist es ebengenau dieser ‚Wimmelbild‘charakter, der es schwierig macht, sich von dem Bild abzuwenden.
Die Bilder nehmen den allergrößten Platz auf den großformatigen Seiten ein. Auf manchen Seiten ist nur ein großes Bild zu sehen, auf anderen wiederum findet man bis zu vier schmalere Bilder vor. Unter den Bildern befinden sich die sehr kurzen, mitunter nur aus ein paar Wörtern bestehenden Textpassagen; auf jeder Seite sind bis zu vier von ihnen in orangeroten bzw. beigegrauen Farbblöcken arrangiert. Teilweise stehen die Farbblöcke/ Textpassagen wie Blockkommentare links oder rechts oben auf einem ansonsten weiß gehaltenen Seitenteil. Zwei Bilder im Buch sind unbetextet.
Zwischen Bild- und Textaussage gibt es häufig große Widersprüche, Text und Bild stehen dann in kontrapunktischer Spannung einander gegenüber. Beispielsweise ist im gesamten Buch die Rede vom „großen Wald“, den Sophia durchqueren muss. Würde man das Buch vorlesen, ohne die Bilder zu zeigen, so würde sich zu keiner Zeit explizit erschließen, dass es sich bei dem „großen Wald“ um eine Stadt handelt.
Dass „Das Mädchen in Rot“ nicht wirklich für Kinder ab fünf Jahre geeignet ist, wie der Verlag (Gerstenberg) empfiehlt, wird allein schon durch die vielen versteckten Anspielungen auf Themen deutlich, die in der Regel nur ältere Jugendliche oder Erwachsene verstehen werden. Teilweise handelt es sich hierbei um politische Anspielungen: So findet man im Buch mehrere Plakate bzw. Projektionen, die Berlusconi darstellen und mit Sätzen wie ,I am the Best‘ oder ,Your Candidate am I‘ untertitelt sind. Häufig gibt es sexuelle Anspielungen: Man kann auf fast jeder Seite Bilder mit halbnackten Frauen, Mädchen in Lolitaposen, Frauen mit anzüglichen Blicken oder Bilder, die auf Körperteile wie Brüste oder rote, volle Lippen fokussiert sind, sehen. Nur ein geübter Leser/ Betrachter wird hierin ironische Anspielungen auf Perraults „Petit Chaperon Rouge“ sehen können, ist doch sein Märchen ebenfalls mit vielen sexuellen Anzüglichkeiten durchsetzt – nicht nur, wenn der Wolf das Rotkäppchen zum Schluss bittet, sich auszukleiden und sich zu ihm ins Bett zu legen.
Ein weiteres Element, das gegen eine frühzeitige Beschäftigung mit diesem Bilderbuch spricht, sind die explizite Gewalt indizierenden Hinweise, die im Buch durchaus präsent sind. Brutalität und Sexualität sind zentrale Elemente in „Das Mädchen in Rot“, sie werden durch Sarkasmus noch zugespitzt. Nach ‚kindgerechten‘ Elementen sucht man vergebens. Durch die diversen Anspielungen und die hervorgerufene verstörende Atmosphäre ist es nicht empfehlenswert, „Das Mädchen in Rot“ gemeinsam mit kleinen Kindern zu lesen. Vielmehr erschließt sich die Komplexität dieses herausragenden Buches erst einem deutlich älteren Lesepublikum.
„Das Mädchen in Rot“ zeigt: Auch so können Märchen funktionieren. Den Leser erwartet ein visuelles Erlebnis, verbunden mit einer Geschichte, die wohl ein jeder kennt. Innocenti bringt den Märchenklassiker durch beeindruckende und zugleich bizarre Bilder in unsere Gegenwart und schafft es, seine Leser in die wundersame (und ursprünglich auch düstere) Welt der Märchen zu entführen.