Silei, Fabrizio (Text) und Quarello, Maurizio A.C. (Illustration): Abseits. 1938. Ein Fußballer sagt NEIN
Und sie spielen, um zu gewinnen
von Sabine Berg (2014)
Der neunjährige Markus lebt mit seinen Eltern in Wien. Es ist das Jahr 1938. Markus liebt den Fußball. Er ist ein großer Fan des berühmten österreichischen Fußballspielers Matthias Sindelar, des „Papierenen“, wie er wegen seiner schmächtigen Statur genannt wird. Die Nationalmannschaft Österreichs ist zu dieser Zeit bekannt als das „Wunderteam“. Markus freut sich, denn nach dem ‚Anschluss‘, der De-facto-Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland, wird es bald eine gemeinsame deutsch-österreichische Fußballmannschaft geben. Sie kann bei der kommenden Weltmeisterschaft nur gewinnen, so hat es der Lehrer in der Schule erzählt. Vor dem Zusammenschluss soll es noch ein letztes Spiel der beiden Teams gegeneinander geben.
Markus’ Vater sieht der Vereinigung der beiden Mannschaften mit anderen Gefühlen entgegen, genauso wie die übrigen Mitstreiter seiner Widerstandsgruppe. Sie wollen daher Sindelar zu einer politischen Demonstration bewegen: Er soll bei dem Match nicht auflaufen. In einem Gespräch mit Camilla, der jüdischen Verlobten Sindelars, versucht Markus‘ Vater, in diese Richtung Überzeugungsarbeit zu leisten: „Er darf nicht spielen! Sie müssen ihn davon überzeugen! Bitte! Sindelar ist ein Symbol, er steht für uns alle ... Er darf nicht mit diesen Dreckskerlen spielen, die bei uns einmarschiert sind. Wir haben nur ihn. Er steht für Österreich, für unsere Freiheit. Sagen Sie ihm, er darf nicht spielen!“
Am 3. April 1938 findet im Wiener Praterstadion das ‚Anschlussspiel‘ zwischen ‚Ostmark‘ und ‚Altreich‘ statt. Unter den Zuschauern sind auch Markus und sein Vater. Markus, voller Vorfreude auf das historische Match, ist mit Begeisterung dabei. Auf dem Gesicht seines Vaters aber zeichnet sich Enttäuschung ab, als Sindelar als Kapitän zusammen mit seiner Mannschaft auf den Platz aufläuft.
Seit Tagen gibt es Gerüchte, dass man von den Spielern des „Wunderteams“ verlangt habe, gegen die Mannschaft der Deutschen zu verlieren. Doch es kommt alles anders: Matthias Sindelar bringt seine Mannschaft gegen die hart spielenden Deutschen in Führung, und als auch noch sein Freund Karl Sesta den Ball mit einem Freistoß in den Kasten befördert, tobt das Stadion vor Begeisterung: 2:0 gewinnt das österreichische Team. Markus und sein Vater jubeln.
Für Markus verläuft das Spiel, wie er es sich erhofft hat. Er versteht aber nicht, warum nicht alle wie er begeistert sind, ja, weshalb die Stimmung auf der Tribüne, auf der die deutschen Offiziellen Platz genommen haben, „eisig“ wird. Und warum strecken Sindelar, sein großes Idol, und Sesta nach dem Spiel als einzige der Mannschaft nicht den Arm zum Hitlergruß in Richtung der Ehrentribüne? Warum weigert sich Sindelar? Sieht er denn nicht, dass Deutsche und Österreicher ein unbesiegbares Team bilden können, das die nächste Weltmeisterschaft gewinnen kann? Und warum ist sein Vater so begeistert, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hat? Markus begreift nicht, dass für seinen Vater Sindelars demonstratives Verhalten noch mehr bedeutet als der Sieg in diesem Fußballspiel.
Nach seinem mutigen Auftritt weigert sich Sindelar trotz aller Versuche der Nazis, ihn für sich zu vereinnahmen, für das neue gemeinsame Team zu spielen. Er nimmt auch an der Weltmeisterschaft in Frankreich nicht teil. Die Nationalmannschaft „Großdeutschlands“ scheidet bereits in der Vorrunde aus.
Ein paar Monate später, im Januar 1939, werden Sindelar und seine Verlobte tot aufgefunden. Ihr Tod wird nie richtig aufgeklärt. Gas sei ausgetreten; es wird von Unfall oder auch Selbstmord gesprochen – doch viele glauben beides nicht. Obwohl man versucht, den Tag der Beerdigung geheimzuhalten, folgen mehr als fünfzehnttausend Menschen dem Sarg, unter ihnen Markus und sein Vater. Die Menge nimmt Abschied von einem „der besten Fußballer der Geschichte“, der durch seine Weigerung, für die Deutschen zu spielen, zudem ein Vorbild für die Kämpfer des Widerstandes geworden ist.
Maurizio A. C. Quarello hat den Text von Fabrizio Silei mit eindrucksvollen Bildern illustriert. Das Umschlagbild des hochformatigen Buches zeigt in einer ‚Momentaufnahme‘, wie Matthias Sindelar, hoch konzentriert und mit entschlossenem Blick, zu einem kräftigen Schuss ausholt. Auf dem Rückdeckel sieht man Markus, der seinen die Fahne des „Wunderteams“ schwenkenden Vater glücklich umarmt.
Bis auf zwei Ausnahmen ist auf jeder Doppelseite rechts das jeweils ganzseitige Bild und links der Text positioniert, der meistens nur einen Teil der Seite einnimmt. Die Zentralstellung des Spiels im Praterstadion wird durch zwei aufeinanderfolgende Doppelbildseiten hervorgehoben. Die erste Doppelseite hält die Szene nach Sindelars Torschuss in einer Halbtotalen fest: Der Torschütze und ein Mitspieler jubeln mit hochgerissenen Armen, die deutschen Abwehrspieler schauen dagegen entsetzt und wie versteinert dem Ball hinterher, der gerade die Torlinie passiert. Die nächste Doppelseite lenkt den Blick auf eine Gruppe von Männern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Stellung, die nach dem Tor begeistert rot-weiß-rote Flaggen mit dem österreichischen Adler schwenken.
Die Bilder, auf denen Markus’ Eltern oder Sindelar und seine Verlobte zu sehen sind, wirken durch ernstes Mienenspiel und angestrengte Körperhaltung der Personen sowie dunkle Umgebungsfarben bedrückend. Den Dargestellten ist anzumerken, dass sie sich in einer für sie unangenehmen Situation befinden. So etwa müssen die Eltern ihre wirklichen Gefühle vor ihrem Sohn geheim halten, um ihn schützen zu können: „Als sein Vater darauf etwas erwidern will, fällt sein Blick auf die Mutter. Die steht hinter Markus’ Rücken, wirft dem Vater einen ernsten Blick zu und legt einen Finger auf die Lippen.“
Szenen aus dem historischen Match und einem anderen Spiel werden erkennbar getreu nach zeitgenössischen Originalfotos wiedergegeben. Beispielsweise ist das Bild der mit Reichsadler und Hakenkreuz beflaggten Ehrentribüne, auf der der „Reichssportführer aus Berlin“, Hans von Tschammer und Osten, zusammen mit anderen Offiziellen beim Hitlergruß zu sehen ist, nach einem Zeitungsfoto gearbeitet.
Der Text im Buch ist typographisch unterschiedlich gestaltet. Der Fließtext ist in Serifenschrift gedruckt. Je nach Wichtigkeit der Aussagen werden dabei einzelne Zeilen oder Worte im Fließtext durch größere Typen hervorgehoben und wirken wie (Zwischen-)Überschriften. Signalwirkung haben insbesondere Wörter und Halbsätze, die in fetten, serifenlosen Großbuchstaben gedruckt werden, z. B.: „‘ÖSTERREICH; ÖSTERREICH!‘, beginnt jemand zu brüllen, und Markus ertappt sich dabei, dass er mitbrüllt.“ Text, Layout und Bild fügen sich jeweils zu aussagekräftigen Einheiten, wie am Beispiel des Spielendes zu sehen ist: Auf der Textseite steht zuerst mit übergroßen, fett in Grau gedruckten Zahlen das Ergebnis: „2:0“, danach werden die Reaktionen auf der Tribüne beschrieben und wird die Aufstellung der Spieler zum „deutschen Gruß“ geschildert: „Alle heben den rechten Arm. ‚Heil Hitler!’“ Ein Absatz unterbricht an dieser Stelle den Fließtext; die nächste Zeile beginnt mit Riesenbuchstaben: „Alle,“, und es folgt – etwas kleiner geschrieben – „außer Sindelar und Sesta“. Das Bild zeigt einen sehr ernsten und körperlich angespannten Sindelar vor hellgrauem Hintergrund, der seine Hände an den herunterhängenden Armen zu Fäusten gepresst hält.
Insgesamt ist das Zusammenspiel von Text und Bildern sehr überzeugend, wobei den Bildern häufig die Funktion zukommt, die im Text allenfalls angedeuteten Gefühle der Figuren stärker ins Bewusstsein des Betrachters zu bringen. Besonders gelungen ist eine Doppelseite, die zupackend ein Gefühl von Erschütterung verbildlicht, obwohl die entsprechende Person gar nicht zu sehen ist: Im Text heißt es: „Etwa acht Monate später stieß das Mädchen, das jeden Morgen Sindelar und Camilla die Milch brachte, einen Schrei aus.“ Auf dem Bild rechts gegenüber ist lediglich eine Milchflasche zu sehen, die gerade in verschiedene Teile zerbirst, während die Milch nach allen Seiten spritzt. Erst auf der nächsten Seite erfährt man den Grund des Schreis. Nach einer Ellipse heißt es: „Die Gestapo brachte die Leichen der beiden eilig fort“.
„Abseits“ wird vom Verlag für Leser ab acht Jahren empfohlen. Das scheint deutlich zu früh zu sein, denn die Leser müssten die politischen Hintergründe im Jahr 1938 zumindest ungefähr kennen, um die Geschichte verstehen zu können. Es entstehen zahlreiche Leerstellen, die auch ein vorinformiertes Kind wohl nicht richtig füllen kann. Zum Beispiel werden auf den ersten Seiten des Buches mit Bezug auf Markus‘ Zimmer ein Bild mit „Stukas“ und ein Weltmeisterschaftsplakat erwähnt. Auf dem daneben zu sehenden Bild sind Flugzeuge sowie eine Weltkugel mit Fußball und Fußballspieler, Soldaten und eine wehende Hakenkreuzfahne abgebildet. Dass Markus Sturzkampfflugzeuge als „Stukas“ kennt, dass er die Soldaten und die NS-Fahne mit dem deutschen Einmarsch in Österreich assoziiert und in der Bildkomposition von Weltkugel, Fußball und Fußballspieler das Ankündigungsplakat der Fußball-WM 1938 vor Augen hat, dürften für ihn ganz normale Dinge sein. Für ein Kind von heute erschließen sich diese Zusammenhänge nicht, und es wird auch die diese Bildseite prägende Ästhetik nicht als historisches Zitat verstehen können.
Auch die letzten Seiten des Buches, die über den Tod Sindelars und die Ermordung von Millionen Frauen, Männer und Kindern in den Todeslagern der Nazis berichten, gehen thematisch weit über das hinaus, was für Achtjährige verständlich ist. Dass hierbei nicht einmal davon gesprochen wird, dass es sich bei den Opfern vornehmlich um Juden gehandelt hat, wirkt ebenso verstörend wie die gewollte Parallele, die zwischen dem Tod Sindelars und seiner Freundin und der späteren Vergasung der Juden gezogen wird: „Matthias und Camilla haben, ohne dass sie es ahnen konnten, ihr Schicksal vorweggenommen.“
Aus den genannten Gründen scheint „Abseits“ eher für Kinder ab frühestens zwölf Jahren zu empfehlen zu sein. Gut geeignet ist das Buch auch für den Schulunterricht, um Schülern einen ungewöhnlichen Zugang zu den historischen Ereignissen zu bieten.