Geda, Fabio: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts. Roman
Ein Sommer, der alles verändert
von Sebastian Lingens (2014)
„Für einen Geschichtenerzähler ist das Leben eine Art Schwein: Davon wird auch nichts weggeworfen.“ Zeno, der Protagonist und Ich-Erzähler von Fabio Gedas neuem Roman „Der Sommer am Ende des Jahrhunderts“, ist ein erfolgreicher Comiczeichner, der zurückblickt auf den Sommer des Jahres 1999, einen Sommer, der sein Leben verändert hat und der den Abschied von seiner Kindheit markiert. Zeno muss diesen Sommer in Norditalien bei seinem Großvater verbringen, von dem er bislang nichts gewusst hat und der ihn auch nur widerwillig aufnimmt. Es dauert lang, bis das Eis zwischen beiden zu schmelzen beginnt und sie erkennen, wie stark das Band zwischen ihnen, den beiden zunächst so unterschiedlich scheinenden Menschen, ist. Zeno will mit seiner Erzählung erkunden, wie er geworden ist, wie er ist. Seine Geschichte wird unterbrochen durch diejenige des Großvaters, der in tagebuchähnlichen Kapiteln ein Resümee seines zu Ende gehenden Lebens zieht.
Am Anfang der Geschichte ist Zeno noch ein unbeschwertes Kind, das mit seinen Eltern über dem Restaurant der Großeltern in einem kleinen Dorf auf Sizilien lebt. Die familiären Beziehungen sind harmonisch, besonders zu seinem Vater hat Zeno ein inniges Verhältnis. Sie teilen viele Vorlieben miteinander wie das gemeinsame Angeln oder das Interesse an Science-Fiction-Serien wie „Star Trek“, selbst ihr Essensgeschmack ist ähnlich. Für Zeno ist sein Vater ein Vorbild, ein Mann, der alles schaffen und dem nichts passieren kann. Dies ändert sich schlagartig, als der Vater bei einem gemeinsamen Angelausflug ohnmächtig wird. „Leukämie“ lautet die Diagnose der Ärzte, und die lebensbedrohliche Krankheit krempelt das bisher beschauliche Leben der Familie vollständig um. Plötzlich sieht Zeno sich einer „dicken Kröte“ gegenüber, die bekämpft werden muss. Seine sorglose Kindheit scheint beendet. Er sieht sich nun mit Sorgen und Ängsten konfrontiert, die er bis dahin nicht gekannt hat. Er möchte bei seinem Vater sein, der in einer Spezialklinik in Genua behandelt wird, und ihm durch die schwere Zeit helfen. Doch die Klinik lässt keinen Besuch von Kindern zu. Schweren Herzens entschließt sich daher die Mutter, Zeno zu ihrem Vater zu bringen, von dessen Existenz sie ihrem Sohn jedoch nie etwas erzählt hat. So kommt Zeno zu seinem Großvater in das piemontesische Colle Ferro. Er fühlt sich verraten von seiner Mutter. In dem kleinen Bergdorf ermöglicht einzig ein Handy eine Kommunikation mit den Eltern in Genua, allerdings nur mitunter und nur bei gutem Empfang.
Der Umgang mit seinem schrulligen, seines Lebens überdrüssigen Großvater ist am Anfang durchaus schwierig, und ein jeder geht seinen Weg. Beide scheint nichts miteinander zu verbinden. Zeno freundet sich mit Isacco an, dem Neffen der örtlichen Kauffrau, und mit Luna, die mit ihren Eltern in Colle Ferro Urlaub macht. Gemeinsam verbringen sie einen Teil des Sommers in dem kleinen Örtchen, und mit seinen beiden Spielkameraden kann Zeno noch einmal ganz Kind sein. So glaubt er wie sie an Magisches, an Geistermädchen und an Grotten mit magischem Wasser, und immer gewinnt das Gute gegen das Böse. Doch auf der andern Seite reißt ihn die stete Sorge, den Kampf gegen die Krankheit des Vaters zu verlieren, aus seiner Kinderwelt heraus. Mithilfe seiner Bilder – von Comichelden wie Spiderman oder den X-Men – versucht er, seinen Kummer zu bannen. Auch der SMS-Kontakt mit seinem Vater hilft ihm über die schwierige Zeit hinweg und ist für Zeno ein Anker, der ihm Halt gibt. Der Aufenthalt bei seinem Großvater lässt ihn eine Veränderung durchleben, die ihn prägt.
Die zweite, zwischengeschaltete Stimme in Gedas Roman gehört Simone Coifmann, Zenos jüdischem Großvater, der in einer eigenen Erzählung prägende Momente seines Lebens festhält. Geboren wurde er im November 1938, dem Monat, in dem in Mussolinis Italien das antisemitische „Gesetz zur Verteidigung der Rasse“ verkündet wurde. Die antijüdischen Repressalien, später der Krieg und seine Folgen bestimmen das Leben der vorher so glücklichen Familie. So müssen die Coifmanns auf der Flucht ihren Namen ablegen und ihr Jüdischsein verleugnen, um überhaupt überleben zu können. Um nicht aufzufallen, besuchen sie sogar die Messe, und die Großmutter lassen sie auf einem katholischen Friedhof beerdigen. Einzig das Gebet Schma Jisrael, das ihnen ihr Vater beibringt, bleibt Simone und seinem älteren Bruder Gabriele als Zufluchtspunkt; es ist für sie über Jahre ein Hoffnungsanker in schwierigen Situationen.
Während der Flucht, die sie zunächst nach Frankreich, später in die Piemonteser Berge führt, lernt Simone schon früh, sich unsichtbar zu machen, anderen nicht aufzufallen. Diese Eigenschaft begleitet ihn sein ganzes Leben bis hinein in sein erwachsenes Alter. Eine große Rolle spielt für ihn sein Vater, ein anerkannter Chemiker, der stets bestrebt ist, seine Familie zu ernähren und zu beschützen, aber durch die Folgen der Repressalien und des Krieges ein schweres Trauma erleidet und sich das Leben nimmt. Simones Mutter steht danach mit zwei Kindern alleine da, mit der Situation vollständig überfordert. Auch deshalb schickt sie Simone in die Olivetti-Schule nach Ivrea, wo er eine Ausbildung machen soll. Da er ihn schmerzhaft vermisst, schreibt Simone dem Vater, obwohl er tot ist, immer wieder Briefe, die er jedoch nicht abschickt.
Eine wichtige Rolle im Leben des Schülers nimmt neben dem Vater sein bewunderter Bruder Gabriele ein, der mit großem Erfolg in Pisa studiert. Doch auch diesen holen die Erinnerungen ein, und wie der Vater begeht er Selbstmord. Auch bei Simone haben die Erlebnisse ein schweres Trauma hinterlassen. Er versucht, sich unsichtbar zu machen, nicht aufzufallen, egal, ob im Beruf oder in seinem Privatleben. Kontakte aufrechtzuerhalten fällt ihm schwer, er ist ständig auf Reisen, er ist wortkarg, und für seine Tochter ist er ein Fremder, was schließlich zu einer Entzweiung zwischen Simone und ihr führt. Einzig in Colle Ferro, dem Haltepunkt der Familie während ihrer damaligen Flucht, findet er seine Ruhe.
Auf den ersten Blick scheinen Enkel und Großvater nichts gemeinsam zu haben, welcher Eindruck durch die dürftige Kommunikation der beiden nur verstärkt wird. Doch im Verlauf der Geschichte stößt man immer wieder auf Begebenheiten oder Personen, die beide miteinander verbinden. Für beide ist der jeweilige Vater eine wichtige Person in ihrem Leben, und beide werden jeweils auf dramatische Weise von ihm getrennt. Wie Simone versucht hat, mit seinem Vater durch die Briefe in Kontakt zu bleiben, so bemüht sich auch Zeno, den Gesprächsfaden mit seinem Vater aufrechtzuerhalten, indem er Textnachrichten versendet. In beiden Fällen nimmt die Mutter die Rolle einer Vermittlerfigur ein, bei Simone zwischen Vergangenheit und Gegenwart, bei Zeno zwischen Großvater und Enkel. Langsam, ohne es zu merken, nähern sich Enkel und Großvater immer mehr an, helfen einander heraus aus ihren schweren Lebensphasen und beeinflussen sich gegenseitig in ihren Entscheidungen.
Beide Geschichten, die am Anfang nichts miteinander zu tun haben scheinen, laufen am Ende zu einer gemeinsamen Geschichte zusammen: Nach dem Tod seines Großvaters findet Zeno dessen Notizheft, in dem dieser seine Geschichte festgehalten hat. Erst ganz zum Schluss erfährt auf diese Weise der Leser, dass er es eigentlich nicht, wie vermutet, mit einer mehrstimmigen Erzählung im herkömmlichen Sinne zu tun gehabt hat, sondern dass Zeno auf einer zweiten Erzählebene offenkundig aus dem Notizheft des Großvaters zitiert.
Schon diese Konstruktion lenkt den Blick auf die kunstvolle Erzählweise von Fabio Gedas Roman. Da ist einerseits Zeno als Erzähler, der durch seine Geschichte die Fragen aufwirft „Wer bin ich heute?“ und „Was hat mich dazu gemacht?“ Die Intensität seiner Ausführungen wird verstärkt durch die eingebundenen Kommentare, in denen er von seiner jetzigen Situation erzählt; sie dienen erkennbar der Konstruktion einer Authentizitätsfiktion. Man hat das Gefühl, man läse keine fiktive Geschichte, sondern von wahren Begebenheiten. Der autobiographische Eindruck der Erzählung des Protagonisten wird noch verstärkt durch die Einbettung der Geschichte des Großvaters. In ihr werden maßgebliche familiäre Hintergründe offengelegt, indem der Großvater eine Bilanz seines Lebens zieht. Er versucht, sich seine Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Man hat das Gefühl, dass der zurückgezogene Eigenbrötler mit bestimmten Teilen seiner Vergangenheit nicht abschließen konnte oder sie nicht verstanden hat, und sein Lebensbericht steuert denn auch auf den Freitod zu, auch wenn Simone durch den Gang der Ereignisse diesen von Vater und Bruder vorgezeichneten Weg am Ende nicht wählt.
Während Geda Zeno in der Vergangenheit erzählen lässt, ist die Geschichte des Großvaters präsentisch, wodurch das Erzähltempo erhöht wird. Simone berichtet von seinem Leben in sechs Kapiteln, die den Zeitraum von 1938 bis 1999 umfassen. Den Kapiteln seiner Lebensgeschichte ist immer ein langer, durchaus programmtischer Titel vorangestellt: „Ein kurzer Abriss meines Lebens, insoweit man sich überhaupt erinnern, die Vergangenheit rekonstruieren oder imaginieren kann: was Erinnerung erhellt“, es folgt jeweils die Angabe des behandelten Zeitraums. Zenos Kapitel sind dagegen einfach durchnummeriert. Die Zweiteilung des Romans sowie die Einschübe in die Gegenwart könnten von einem ungeübten Leser am Anfang als störend empfunden werden, da sie manchmal den Lesefluss beeinflussen, doch wird schnell klar, dass diese wichtig und unumgänglich sind für den Fortlauf der Geschichte.
Auch sprachlich vermag Gedas Roman – die Übersetzung besorgte Christiane Burkhardt – zu überzeugen. Zeno, der ein absoluter Comic-Fan ist, lässt stets Comicbegriffe oder -bezüge mit einfließen, die im Kontrast zu seiner häufig poetischen, für einen Zwölfjährigen eher untypischen Sprache stehen.
„Der Sommer am Ende des Jahrhunderts“ ist ein in jeder Hinsicht lesenswerter Roman, der durch lebensnahe Erzählweise, seine lebendigen Charaktere und seine poetische Sprache auch jungen Erwachsenen ein zum Nachdenken anregendes Lesevergnügen bietet, das Einblick gibt in berührende Schicksale der vergangenen Jahrhunderthälfte.