Cali, Davide (Text) und A.C. Quarello (Illustration): Mein Vater, der Pirat
Hoffnung im schwarzen Meer
von Randi Dann (2014)
Sein Vater ist ein Pirat. Da ist sich der namenlose Ich-Erzähler ganz sicher. Wie soll es auch anders sein? Schließlich ist sein Vater immer unterwegs und kommt nur einmal im Jahr nach Hause. Aber dann nimmt er seinen Sohn auf die Knie, breitet die nach Pulverdampf riechende Seekarte aus, zeigt ihm, wo er überall gewesen ist, und erzählt aufregende Geschichten vom Leben auf hoher See, von den Gefahren, die im Meer lauern, von seinen Freibeuterkameraden und ihrem Schiff, der „Hoffnung“. Und abends schläft der Junge beim vertrauten Rasseln des väterlichen Atems ein.
Doch eines Tages kommt statt des Vaters ein Telegramm ins Haus. Dem inzwischen neunjährigen Jungen ist klar, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. „Vielleicht war sein Schiff untergegangen?“ In seinen Albträumen malt er sich dieses beängstigende Szenario aus. Zusammen mit seiner Mutter macht er sich auf den Weg zu seinem Vater. Doch statt mit einem Schiff reisen sie mit dem Zug, statt am Meer kommen sie mitten in einer Stadt an: „Wir befanden uns in einer Gegend, die sich Belgien nannte.“ Statt in eine Schiffskajüte werden sie in eine Bergwerksbaracke geführt. Hier erfährt er, dass sein Vater kein Unglück auf hoher See hatte, sondern tief unten in einem Bergwerksstollen: Er ist nicht ertrunken, sondern liegt verletzt im Krankenhaus. Denn sein Vater ist kein Pirat, sondern ein Bergmann.
Die Geschichte des italienischen Autors Davide Calí und des Illustrators Maurizio A. C. Quarello ist inspiriert durch die Geschichten italienischer ‚Gastarbeiter’ und das größte Grubenunglück der belgischen Geschichte im August 1956 in der Zeche „Bois du Cazier“ in Marcinelle bei Charleroi, bei dem auch 136 italienische Bergleute ihr Leben verloren. Die historischen Hintergründe werden allerdings überhaupt nicht beleuchtet. Dieses Buch ist keine Bergmanns- oder Piratengeschichte, sondern es steht die Vater-Sohn-Beziehung im Vordergrund.
Es geht um eine Beziehung, die zeigt, wie aus Stolz Enttäuschung wird, wie aus dieser Enttäuschung Erkenntnis erwachsen kann und dass die Wahrheit und die Lüge nicht immer so weit voneinander entfernt sind, wie es zunächst scheint. Zu wissen, dass sein Vater ihn all die Jahre belogen hat, macht den Jungen nicht nur traurig, er ist wütend und enttäuscht: „[I]ch wusste nicht, ob ich ihm nur Gutes wünschte.“ Sein Vater ist für ihn nicht mehr der Held, der er immer war. Der Junge fällt in ein Loch, kann sich nicht erklären, warum sein Vater ihn belogen hat, und er muss noch lange mit dieser Ungewissheit leben. Eines Abends kommt ein Brief eines Kumpels an, der dem Vater berichtet, dass das Bergwerk geschlossen werde. Dies ist auch der Abend, an dem der Junge zu verstehen beginnt. Er folgt seinem Vater in den Keller und entdeckt viele Bergmannsutensilien, und vor allem entdeckt er die Beweggründe für die Lügen seines Vaters: Dieser hat immer auf See gewollt, in ferne Länder reisen und die Welt entdecken wollen. Als er dann hörte, dass es Arbeit in der Ferne gab, machte er sich sofort auf. Doch da, wo er ankam, gab es kein Meer, keine Schiffe und keinen Hafen. Es gab nur das Bergwerk. „Mein Vater hatte mir also nicht einfach etwas vorgelogen. Er wollte ja wirklich zur See fahren.“
Die Erzählung umfasst einen Zeitraum von über zehn Jahren, was für ein Bilderbuch ungewöhnlich ist. Aus dieser Spanne werden drei Zeiträume herausgegriffen, über die der Protagonist rückblickend spricht. Seine Erzählung beginnt einige Jahre vor dem Unglück, es folgt der Besuch in Belgien kurz nach dem Unglück, als der Vater im Krankenhaus liegt, und endet mir der Schließung der Miene einige Jahre später. Bild und Text harmonieren sehr wirkmächtig, unterstreichen doch die Illustrationen die Gedanken, Gefühle und Eindrücke des Jungen sehr deutlich. Werden der Vater und seine imaginierten Abenteuer als Pirat zu Anfang der Geschichte in hellen, warmen, leuchtenden Rot- und Gelbtönen gezeichnet, ändert sich dies mit der Nachricht von dem Unglück. Eine noch relativ helle Zeichnung der Mutter mit dem Brief in der Hand leitet mit dem langen grauen Schatten der Mutter auf der ansonsten fast leeren Doppelseite einen neuen Zeit- und damit auch einen neuen Farbabschnitt ein. Der Weg des Protagonisten und seiner Mutter zu seinem Vater ist markiert durch einen über eine Doppelseite gezeichneten Zug, dessen Dampf stillsteht: Der Junge befindet sich in der Schwebe, er weiß nicht, was ihn erwartet. Diese Phase, in der der Junge die Wahrheit über seinen Vater herausfindet, ist in Blau und Grau gehalten. Die Atmosphäre ist deutlich kälter und düsterer. Der dritte Abschnitt, der für den Verstehensprozess des Jungen steht, ist farblich neutraler und realistischer gestaltet.
Die Ebenen des ‚realen‘ Geschehens und der erdachten und erträumten Ereignisse werden durch unterschiedliche Bildarrangements verdeutlicht. Während die in der Rahmenhandlung agierenden Personen vor weißem Grund freigestellt sind, was ihnen zuweilen etwas Standbildartiges verleiht, wirken die Bilder zu Szenen der Geschichten, die der Vater seinem Sohn erzählt, oder zu Träumen, die der Junge hat, häufig wie Einzelblätter, die wie hochformatig-rechteckige oder auch quadratische Panel aus einem Comic arrangiert und zueinander in Beziehung gesetzt sind. Sie sind in der Regel rechts von den freigestellten Zeichnungen angeordnet, um sinnbildlich anzuzeigen, wie diese Fantasien aus realen Situationen entspringen, und präsentieren meist nur einzelne Details oder zoomen in die Gesichter der Protagonisten.
Quarello setzt in dem Bilderbuch unterschiedliche Bildtypen gegeneinander: Phantasiebilder, die mit dem typischen Inventar aus Abenteuergeschichten (z. B. Seekarte, Schatztruhe) aufwarten oder eine exotische Szenerie entwerfen, werden abgelöst durch wirklichkeitsnahe Alltagsbilder und fotorealistische Kompositionen von mitunter dokumentarischer Genauigkeit. Ein Alleinstellungsmerkmal beansprucht ein Traumbild, das der Junge von dem vermeintlichen Untergang der „Hoffnung“ imaginiert. Es ist eine in drei Panel untergliederte Bearbeitung von Hokusais Farbholzschnitt „Die große Welle vor Kanagawa“, in die ein Segelschiff, eine schwarze Totenkopffahne und ein furchteinflößender geflügelter Drache hineingezeichnet sind, der aus dem Bosch-Universum stammen könnte. Manche Seiten sind komplett gefüllt: Diese zeigen emotional aufgeladene Situationen, besonders positive wie eine mit dem Vater – in einer Halbtotalen als Pirat vor dem Strahlenkranz der aufgehenden Sonne abgebildet –, als der Junge noch voller Stolz auf ihn heraufgeschaut hat, und ebenfalls besonders tragische, beispielsweise als der Junge am Krankenbett seines Vaters steht und nicht weiß, wie es um ihn bestellt ist.
Die Parallelen zwischen dem Leben der Bergmänner und der Piraten sind sehr geschickt gezogen. Im Text werden sie gerade zum Ende hin deutlich benannt. In den Bildern sind sie dagegen schon viel früher versteckt vorhanden. Quarello ist es großartig gelungen, die Piraten mit eigentlich eindeutigen Bergwerksutensilien wie Grubenlampen und -helmen so auszustatten, dass man die Gegenstände auf den ersten Blick für Schiffslaternen und Piratenhüte hält. Die Dinge sind auf den Bildern zwar als realistische Objekte präsent, fügen sich aber nahtlos in den fabulierten Zusammenhang ein. Auch das immer wieder betonte Rasseln des väterlichen Atems dient als Hinweis auf seine wahre Identität, zudem gibt es dem Jungen Aufschluss darüber, dass es sein Vater ist, der im Krankenzimmer liegt: „Es war von oben bis unten bandagiert. Doch erkannte ich am Rasseln seines Atems, dass er es war.“
Besonders gestaltet ist nicht nur der Aufbau der Bilder, sondern auch der des Textes. Einzelne Wörter, Namen und Sätze sind mitunter durch verschiedenartige Farben oder unterschiedliche Schriftgrößen hervorgehoben. Besonders eindrücklich gestaltet ist dies, wenn die Mutter dem Sohn erklärt, was mit seinem Vater passiert ist. Auf der fast komplett kohleschwarzen Seite steigt man mit den grauen Worten der Mutter sozusagen in die Kohlengrube hinunter. Nach oben, in das Bewusstsein des Jungen, gelangen nicht alle Worte gleichermaßen. Manche sind so klein geschrieben, dass man sie kaum lesen kann. Andere sind umso größer und deutlicher und brennen sich als Schlagworte sowohl in das Gedächtnis des Jungen als auch des Lesers. Die Korrespondenzseite ist fast ausschließlich weiß. Steht oben auf der Seite lediglich „Ich erinnere mich deshalb gut an diesen Tag, weil ich meinen Vater lebendig angetroffen habe, wo ich doch geglaubt hatte, dass er tot war“, folgt darauf Leere, eine große Leere, die anzeigt, dass es gerade nichts zu sagen gibt, sondern der Junge alles erst einmal verarbeiten muss. Sein Denk- und Verstehensprozess wird am unteren Seitenrand resümiert in der Zeile: „Und weil mir klar war, dass ich kein kleines Kind mehr war.“
„Mein Vater, der Pirat“ ist mehr als eine bebilderte Vater-Sohn-Geschichte. Es ist eine Geschichte über Stolz, Enttäuschung, Schmerz, Verletzlichkeit und die Stärke, mehr als verzeihen zu können. Denn der Junge verzeiht seinem Vater nicht nur. Er erkennt, dass sein Vater ihn all die Jahre nicht eigentlich angelogen hat, sondern dass er seinen Sohn teilhaben lassen wollte an seinem Traum, dass er ihm Schöneres bieten wollte als Geschichten aus dem Bergwerk. Der Junge erkennt, dass viele Details aus den abenteuerliche Geschichten eine Entsprechung in der Wirklichkeit hatten: Die Kumpel des Vaters waren die anderen Piraten, über seinem Bett in der Baracke hing ein wunderschönes Meeresbild, und immer, wenn er im Bett lag, konnte er, das Wort „Hoffnung“ unter der Decke lesen. Kam dann in diesen Momenten draußen der Wind auf, knarrte die Baracke „wie ein Schiff in bewegter See“. Es war die Sehnsucht des Vaters, die ihn die Geschichten erfinden ließ und die durch das Erzählen ein wenig gestillt werden konnte, saß er doch fest in diesem schwarzen Meer aus Kohle, das ihn beinahe für immer verschluckt hätte. Im Leben eines See- und eines Bergmanns gibt es eben durchaus Parallelen: Für beides braucht man Mut, man begibt sich in große Gefahr und wird stets von der Hoffnung begleitet „heil nach Hause zu kommen“. Und in beiden Fällen braucht man eine treue und zuverlässige Mannschaft. Tatsächlich erkennt man in den Kumpeln, die nach vielen Jahren noch einmal gemeinsam am alten Bergwerk trauern, die Kumpane aus den alten Geschichten. „Sie waren alle da, eine Mannschaft von dreckigen Piraten, die wie die Kinder weinten vor ihrem Schiff. Dem Schiff, auf dem sie so vielen Stürmen getrotzt hatten, in dem Meer, das so viele von ihnen geraubt hatte.“ Und genau deshalb klettert der Junge zum Schluss auf den Hochspannungsmast und hisst eine Piratenflagge: Er ist erwachsen geworden und hilft nun seinem Vater und dessen Kumpeln, über die Schließung des Bergwerks hinwegzukommen. „Meine Blicke begegneten denen meines Vaters, und zum ersten Mal nach so vielen Jahren sah ich ihn wieder so, wie er in meiner Erinnerung war: Mein Vater, der große Pirat.
Er war nie etwas anderes gewesen.“