Hesse, Karen: Phoenix Rising

Zimmer mit Aussicht

von Anja Corsten und Hanneke Reuter (1998)

„Etwas war anders. Es war der Vorhang. Der Vorhang des hinteren Zimmers war zugezogen.“ Ein unbehagliches Gefühl beschleicht Nyle. Mit diesem Raum verbindet sie Trauer und Schmerz: Dort starb ihre Mutter, dort starb ihr Großvater. Und nun hat Nyles Großmutter Evakuierte aus dem atomar verseuchten Cookshire auf ihrer Farm aufgenommen. Sie hat in dem hinteren Zimmer den strahlenkranken Ezra mit seiner Mutter untergebracht, „dessen Schicksal schon alleine dadurch besiegelt war, dass er sich dort aufhielt“. Nyle kümmert sich nur widerwillig um den 15-jährigen Ezra, sie will nicht noch mal einen Menschen sterben sehen, „aber manchmal muss man Dinge tun, die man lieber nicht täte.“

Karen Hesse nutzt das Zimmer als Symbol für Nyles Verarbeitung ihrer Kindheitserlebnisse, die beginnende Freundschaft mit Ezra und seine überraschende Genesung. Aus der zögernden Annäherung entsteht eine symbiotische Beziehung zwischen den Heranwachsenden. Ezra nimmt Nyle ihr Unbehagen vor dem Zimmer und Nyle nimmt Ezra die Angst vor dem Leben außerhalb des Zimmers. Ezra erholt sich von seiner schweren Krankheit und fasst neuen Lebensmut. Er fühlt sich wie Phoenix, der aus der Asche steigt, aber die Asche ist verstrahlt. Die Folgen der Strahlenkrankheit machen dem kurzen Aufblühen ein Ende; Ezra stirbt an Leukämie.

Die ungewöhnliche Liebesgeschichte ist eingebettet in eine mögliche Lebenssituation nach einem Super-GAU. Karen Hesse gelingt es, das schon häufig bearbeitete Thema Atomunfall ohne appellativ-pädagogische Tendenz zu gestalten, indem sie – anders als Autorinnen und Autoren der 80er Jahre – persönliche Lebensperspektiven in den Vordergrund stellt. Unterstützt wird dies durch die langsame, detaillierte Ich-Erzählung Nyles sowie ihre Erinnerungen an die Kindheit. – Trotz des ernsten Themas ein hoffnungsvolles Buch, das Emotionen auslöst und zum Nach- und Weiterdenken anregt.

Leseprobe