Jaromir, Adam (Text) und Gabriella Cichowska (Illustration): Fräulein Esthers letzte Vorstellung. Eine Geschichte aus dem Warschauer Ghetto
Warschau im Jahr 1942
von Nadine Bieker (2014)
„Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ schildert die letzten drei Monate des Waisenhauses von Janusz Korczak im Warschauer Ghetto. Wir schreiben den Mai 1942; es ist eine Zeit äußerster Not. Das berühmte weiße Haus in der Krochmalnastraße hat man schon vor anderthalb Jahren mit der befohlenen Übersiedlung ins Ghetto aufgeben müssen. Das Recht auf eigenen Raum und Bewegung, die fröhlichen Sommerkolonien – all dies scheint nur noch ein ferner Traum. Korczak und seine neun Mitarbeiter sind verzweifelt. Wie soll man unter diesen Umständen Ruhe bewahren? Wie Trost und Zuversicht spenden? Angeregt durch seine Mitarbeiterin Fräulein Esther kommt Korczak im Traum die Idee, die Kinder ein Theaterstück des indischen Dichters Rabindranath Tagore aufführen zu lassen. Während der alte Doktor im Ghetto um Lebensmittel und Geld für das Waisenhaus bettelt und die Straßenkinder versorgt, üben die Kinder unter Anleitung Fräulein Esthers ihre Rollen ein.
Im Zentrum des illustrierten, halb-dokumentarischen, halb-fiktionalen Buches von Adam Jaromir und Gabriela Cichowska steht Janusz Korczak, der berühmte polnische Arzt, Kinderbuchautor und Pädagoge, der die Möglichkeit auf ein besseres Leben hatte und sich dennoch entschied, mit seinen Waisenhauskindern die Reise in den Tod anzutreten. An seiner Seite heben die Autoren besonders seine Mitarbeiterin Fräulein Esther hervor – auch sie eine unglaublich willensstarke Persönlichkeit, die wie Korczak ihre Kräfte nicht schont und nur eines will: „Helfen, nützen, für die anderen da sein.“ Korczak und auch Fräulein Esther wissen, was geschehen wird. Sie wissen, dass auch sie und die Kinder nicht von den Nazis verschont bleiben, und versuchen trotzdem, den Kindern alles zu geben. Wenn der Doktor sagt, „es sei schön zu wissen, dass die Menschen drüben uns nicht vergessen haben“, nachdem sie einen Strauß Blumen geschenkt bekommen haben, wenn ein Junge nüchtern feststellt, dass es beim Waisenhaus keine Vögel gäbe, denn „[d]ie kommen nur dorthin, wo es was zu holen gibt“, wird die langsam zur Gewissheit werdende Hoffnungslosigkeit noch deutlicher – und umso beeindruckender wird die Hingabe Korczaks und seiner Mitarbeiter für die Kinder.
„Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ ist ein zu Herzen gehendes, aber auch ein sehr trauriges Buch, das von Leiden, Hunger, Krankheit und Tod spricht. Aber die Hoffnung auf ein besseres Morgen ist immer präsent, auch wenn sie sich nur in den unscheinbaren Ritualen des Alltags manifestiert: im Pflanzen von Blumen, im Hebräisch-Unterricht, im Morgengebet, im samstäglichen Wiegen, im Tagebuchschreiben und in der Beschäftigung mit der Kunst, vor allem natürlich in der Einübung und Aufführung von Tagores Theaterstück. Die Idee dazu hat Fräulein Esther: „Die Kinder brauchen Ermutigung. Sie schleichen herum, sind apathisch …“. So studiert sie mit einigen von ihnen Tagores Stück „Das Postamt“ ein. Dabei handelt es sich um ein indisches Märchen, an dessen Ende der Junge Amal verstirbt. Mit der Wahl des Stückes wollen Korczak und seine Mitarbeiterin die Kinder jedoch keineswegs auf den Tod vorbereiten – im Gegenteil: Es soll ihnen eine Atempause geschenkt werden, in der sie zumindest für kurze Zeit in eine andere Welt eintauchen können. Und das gelingt: Der Traum vom Theater bietet ihnen die Flucht in eine bessere Welt, so dass sie – und sei es auch nur für Stunden – ihre unwürdige Situation, Krankheit und Hunger vergessen können: „Als die Lichter angingen, saßen alle still da. Glaubten sie etwa, das Stück ginge weiter? Und dass der königliche Postbote an die Pforte unseres Hauses klopfen würde, um ihnen einen Brief zu übergeben?“ – Es soll „Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ sein: Kurze Zeit nach der Aufführung fällt sie einer Straßenrazzia zum Opfer.
Dem Leser wird das Leben im Waisenhaus durch zwei Stimmen vermittelt, die abwechselnd zu Wort kommen und die die Distanz, die wir heute zu dieser Zeit haben, kleiner werden lassen. Die eine Stimme gehört Dr. Korczak, sie schildert den Alltag und die Abläufe im Waisenhaus und lässt uns des Doktors tiefe Menschlichkeit, aber auch seine ausweglose Verzweiflung spüren. Dass Jaromir in die Passagen Originalzitate aus Korczaks Schriften einmontiert hat (v. a. aus „Pami?tnik“, Korczaks Tagebuch), verleiht ihnen einen hohen Anteil an Authentizität. Die andere Stimme gehört der zwölfjährigen Genia. Von ihr erfahren wir, was es bedeutet, Kind zu sein in einer Zeit, in der Kinder sich nicht mehr an ihr früheres Leben in ihren Familien erinnern und sich noch weniger vorstellen können, dass sie einmal erwachsen werden, einer Zeit, in der aus einer Familie buchstäblich eine Pappfamilie wird, die man in eine Schachtel zurücklegt, wenn die Sehnsucht nach ihr zu groß wird.
In den Passagen beider Ich-Erzähler finden sich eingeschobene Geschichten (auch Dritter), die einzelne Momente des Lebens im Waisenhaus genauer ausleuchten und zusätzliche Aspekte zur Sprache bringen. Komplettiert wird diese Erzählanlage durch einen außenstehenden Erzähler, der ergänzend v. a. von einzelnen Waisenhauskindern erzählt und zum Schluss vom Ende des Dom Sierot berichtet, dem Gang von Doktor Korczak und seinen Kindern nach Theresienstadt am 6. August 1942.
Es tut dem Buch gut, dass dieses grausame Ende nur im Berichtston angedeutet und nicht weiter auserzählt wird. Die eigentliche Erzählung endet am Abend der Aufführung von Tagores „Postamt“, in einem Augenblick, wo Korczaks Kinder in ihrer Begeisterung über das Theaterstück für einen flüchtigen Augenblick vergessen, was vor der Tür geschieht. Zum letzten Mal sehen wir Genia, die Ich-Erzählerin: Sie ist in ihrem Bett im Schlafsaal aufgewacht und träumt von einer Zukunft als Tänzerin, der Rolle, die sie auch im Stück gespielt hat. Die nächste Doppelseite zeigt einen Vorhang, der langsam hochgeschoben wird. Am linken Seitenrand einmontiert ist die deutsch-polnische Bekanntmachung über die sog. „Umsiedlung“, die Räumung des Ghettos. Auf der Schluss-Doppelseite sehen wir den leeren Schlafsaal und eine halboffene Tür: Die Kinder haben den Raum bereits verlassen und sind, zusammen mit Doktor Korczak und seinen Mitarbeiterinnen, zum Umschlagplatz gebracht worden, wovon der außenstehende Erzähler berichtet.
Das Zusammenspiel von Text und Bild ist höchst beeindruckend. Die Farbtöne, hauptsächlich im erdfarbenen Spektrum zwischen Ocker, Braun und Grau/ Dunkelanthrazit schaffen eine eher bedrückende Atmosphäre, die nur an einzelnen Stellen durch lichtere Farben aufgehellt wird, z. B. durch das Rot und Grün der spärlichen Blumen, die rötlichen Töne des Kleides des tanzenden Blumenmädchens aus der Aufführung oder auch in den einmontierten Illustrationen von Rie Cramer zur niederländischen Ausgabe des Tagore-Stücks. Überhaupt wird viel mit Montage gearbeitet: mit Kalenderblättern, Rezeptblock- oder Zeitungsseiten, Plakaten und Bekanntmachungen, Formularen und Postkarten. Bereits zu Beginn des Buches findet sich eine Doppelseite, die ohne Worte die Brutalität der Zeit und des Schauplatzes darstellt. Im Hintergrund sieht man ein Plakat, eine Bekanntmachung, die in völlig nüchternem Ton darauf hinweist, welche Juden wegen Verlassens des jüdischen Wohngebiets zum Tode verurteilt worden sind. Der Vordergrund dieser Seite zeigt neben Dr. Korczak andere jüdische Mitbürger, die langsam zu verschwinden scheinen – sie verschmelzen mit dem Hintergrund. Genau wie die überwiegend namenlosen Kinder des Waisenhauses werden auch hier die Menschen nicht mehr als Individuen dargestellt, sondern als einzelne von vielen, denen allen ein ähnlich grausames Schicksal bevorsteht.
Die Fülle der einmontierten Bildzitate verweist bereits auf das von Adam Jaromir entwickelte Storyboard, das nach historischen Aufnahmen gefertigt und dann von Gabriela Cichowska graphisch auf hohem Niveau umgesetzt wurde. So einheitlich die Doppelseiten auf den ersten Blick auch wirken mögen, so vielfältig sind die benutzten Techniken: Bleistift-, Buntstift- und Kreidezeichnungen, Malerei, Wischtechniken und Frottage. Den Höhepunkt bildet sicherlich die Allonge in der vorderen Buchhälfte, mit der uns Gabriela Cichowska einen Einblick in das weiße Haus gewährt: Von außen sieht man die Fassade des Dom Sierot, des Waisenhauses in der Krochmalnastraße. Zunächst kann man durch die Fenster die Gesichter von fünf Kindern erkennen. Sehr detailliert, fein und sorgsam gezeichnet, geben sie jedem Kind eine eigene Persönlichkeit. Klappt man die Seiten zu ihrer vollen Größe aus, blickt man auf den Gemeinschaftsraum, in dem der kleine Lutek die gespannt lauschenden Kinder mit seinem Geigenspiel erfreut, Kinder, die nur Kinder sein möchten und doch schon vom Leben derart gezeichnet sind, dass sie nicht mehr wie Kinder leben können.
Im Fokus von Jaromirs und Cichowkas großartigem Werk stehen nicht in erster Linie die Gräueltaten der Nazis, es geht vielmehr um die bedingungslose Aufopferung, mit der sich Janusz Korczak und seine Mitarbeiter ihrer Sache für die Waisenhauskinder verschrieben haben. „Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ ist ein inhaltlich wie gestalterisch wunderschönes und zugleich todtrauriges Buch, das aufrüttelt und uns an ganz besondere Menschen erinnert, die in einer der schlimmsten Zeiten unserer Geschichte mehr vollbracht haben, als heute überhaupt vorstellbar ist.
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