„Da ist ein Körper. Der heizt sich auf, summt unter der Haut …“
Ein origineller Roman über das Erwachsenwerden? So etwas gibt es tatsächlich noch: Stephan Lohses „Das Summen unter der Haut“
Von Thomas Fischer (2024)
Normalerweise können Klappentext-Verfasser (ebenso wie Rezensenten) sich einen Vergleich mit Salingers „Fänger im Roggen“ nicht verkneifen, wenn sie einen Roman auf den Schreibtisch bekommen, der von einem einzelgängerischen Jugendlichen auf der Suche nach seiner Identität handelt. Ausgerechnet bei einem ziemlich guten Coming-of-Age- und gleichzeitigem Coming-out-Roman wie Stephan Lohses 2023 erschienenem Das Summen unter der Haut erscheint jener Urknall eines kaltschnäuzigen Jugendromans jedoch nicht im Werbetext, obwohl der Vergleich diesmal berechtigt wäre.
Der vierzehnjährige Julle wohnt in Hamburg und geht auf Wunsch seiner spießbürgerlichen Eltern auf ein musisches Gymnasium, „obwohl mein kleiner Finger zu schwach zum Geigespielen ist“. Als kurz vor den Sommerferien der neue Mitschüler Axel in seine Klasse kommt, der nach dem Krebstod seiner Mutter Knall auf Fall umziehen musste, ist Julle sofort bis über beide Ohren verliebt. Im Jahr 1977 ist das noch ein Problem, und so hadert der Junge altersgemäß nicht nur mit seinem Aussehen, sondern auch mit seiner Sexualität. Nur seiner Schwester kann er sich anvertrauen, und später kommt es zu einem spektakulären Showdown mit seinem Vater.
Gemeinsam streifen die Jungs in der Sommerhitze herum und entdecken am nahen Waldrand eine abgebrannte Hütte. Anhand einiger herumliegender Röntgenaufnahmen erfahren sie, dass der Bewohner Karl Siebert hieß und offensichtlich an einer Knochenerkrankung litt. Auf einer Aufnahme will Axel ein seltsames „Artefakt“ entdeckt haben, und auch die Hütte interessiert ihn, so dass er sie immer wieder umständlich fotografiert. Dann finden sie im Freibad noch einen herrenlosen Spindschlüssel…
Viel mehr passiert eigentlich nicht in diesem Roman, und doch liest man die alltäglichen Erlebnisse der beiden Jungen und ihrer Freunde (und Feinde) mit großem Vergnügen. Daran haben der originelle Wortwitz des Autors, die Diskussionen, die sich buchstäblich um Gott und die Welt drehen, und die schnoddrige Art, die Lohse seinem Ich-Erzähler Julle in den Mund legt, einen wesentlichen Anteil. Hier spricht einer, der in dieser Zeit und Umwelt aufgewachsen ist und sie aus erster Hand kennt, denn der Hamburger Stephan Lohse, Jahrgang 1964 und zunächst als Schauspieler tätig, hat nach seinen beiden ersten Romanen Ein fauler Gott (2017) und Johanns Bruder (2020) hier einen weiteren höchstwahrscheinlich autobiographisch geprägten Roman vorgelegt.
Schade nur, dass er diesen glaubwürdigen Duktus nicht bis zum Schluss durchhält: Axel zieht ebenso plötzlich wieder weg, wie er aufgetaucht war, und Julle erfährt ebenso wenig wie der Leser, was aus seinem Schwarm geworden ist. Auch der Ansatz einer Kriminalgeschichte, wie sie sich mit der Entdeckung der einsamen Hütte entspinnt, verläuft im gleichen Sande wie diese selbst: Aus Axels Fotos geht zwar hervor, dass die Brandruine langsam im Boden versinkt – ein etwas bemühtes Symbol für das Ende der Kindheit – aber das Schicksal Karl Sieberts und des „Artefakts“ an seinem Finger bleiben genauso ungeklärt wie die Sache mit dem gefundenen Schlüssel.
Dennoch ist dieses „Summen unter der Haut“ wahrscheinlich vielen Neuerscheinungen, die ebenfalls vorwiegend im Schwimmbad spielen, überlegen: Zu nennen wären hier Tomasz Jedrowskis „Im Wasser sind wir schwerelos“ [AB6] (ebenfalls in der ALEKI vorhanden), Christian Hubers „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ oder Florian Gottschicks „Damals im Sommer“. Für genügend Ferienlektüre ist zumindest mehr als gesorgt.
Bibliographische Angaben:
Lohse, Stephan
Das Summen unter der Haut
Berlin, Insel, 2023
176 Seiten
Jugendbuch ab 14 Jahre
Leseprobe:
[…] Wir sind ins Freibad eingebrochen. Wir sind eingebrochen. Mitten in der Nacht. Ins Freibad. Wenn wir erwischt werden, ist unser schönes Leben vorbei. Wir sind jetzt Kriminelle: auf die schiefe Bahn geraten, den falschen Freunden vertraut. Als Nächstes klauen wir ein Auto. Oder leeren zumindest einen Kaugummiautomaten, kokeln ein Loch ins Sichtfenster und verkaufen die Plastikringe auf dem Schwarzmarkt oder ziehen dem Eiskühler an der Tankstelle den Stecker und machen Noggersuppe, schmeißen das Kellerfenster vom Schwimmclub ein, lassen die Vereinskasse mitgehen und pinkeln in den Whiskey an der Bar. Unsere Stimmen werden heiser werden, unsere Körper werden nach Schweiß stinken, die tätowierten Zeichen auf unserer Haut werden ausfransen.
„Irre“, sage ich.
„Abgefahren, oder?“
„Auf jeden Fall.“
Das Freibad sieht schön aus. Der Sprungturm gleicht einem erstarrten Tier, die Startblöcke könnten der Nachwuchs sein. Im glatten Wasser spiegelt sich der Mond. „Traust du dich rein?“, fragt Axel.
Wir laufen über die Wiese. An der Mauer zur Umkleide drückt mich Axel gegen den Waschbeton und späht um die Ecke. Ausgerechnet jetzt sehe ich unscharf. Ich weiß nicht, ob ich schwitzen oder frieren soll. Mein Herz pocht in meinen Schläfen. Axel zieht mich den kleinen Hang hinunter. Wir staksen durchs Duschbecken. Dann stehen wir vor dem spiegelglatten Wasser.
„Sollen wir wirklich?“, frage ich.
(S. 138 f.)