skip to content

„Ich war doch kein Faschist, bloß ein europäischer Patriot!

Von Thomas Fischer 2024

Davide Coppos Jugendroman „Der Morgen gehört uns“ schildert das Abgleiten eines gutbürgerlichen Mailänder Jugendlichen ins neofaschistische Milieu. Wird er sich daraus wieder befreien können?

Wer die letzten Wahlergebnisse für die AfD vor allem in Thüringen betrachtet, fällt unweigerlich dem Reflex anheim, zu stöhnen: Was sind das bloß für Leute, die Höcke wählen? Ein neuer Jugendroman aus Italien ist geeignet, dieser Ratlosigkeit abzuhelfen. Davide Coppo, bislang in seiner Heimat als Journalist bekannt, hat damit sein erzählerisches Debut vorgelegt. Er legt allerdings Wert auf die Feststellung, „dass dieser Roman zum Glück keine Autobiografie ist.“ Der Titel „Der Morgen gehört uns“ spielt auf eine berüchtigte faschistische Hymne an.

Wir begleiten den Ich-Erzähler Ettore vier Schuljahre lang in Mailand am Anfang der Nullerjahre. Der zu Beginn der Handlung Vierzehnjährige kommt an eine neue Schule, fühlt sich dort isoliert, alte Freunde wenden sich ab, und mit den Mädchen klappt es auch nicht so richtig. In dieser labilen Verfassung lernt Ettore den charismatischen Giulio und seine Kameraden von der „Federazione“ kennen. Dass es sich dabei um eine (fiktive?) neofaschistische Jugendorganisation handelt, bemerkt er erst so ganz, als er sich schon in der Nestwärme der stramm rechten Jugendbande eingerichtet hat.

Paradoxerweise entwickelt sich der vormalige Literatur-Allergiker dort zu einer eifrigen Leseratte, nur gerät er halt immer an die falsche Lektüre. Fortan nimmt er an Flugblattverteilungen, Schulbesetzungen und Demonstrationen teil, überwirft sich mit der Familie und dem früheren Lebensumfeld und riskiert sogar eine „Ehrenrunde“ in der Schule, weil dicke Mussolini-Biographien und andere rechtslastige Schmöker ihn mehr interessieren als Latein und Mathematik.

Die nach Schuljahren gegliederte Handlung wird in unaufgeregter Alltagssprache vom äußerst naiven und somit unzuverlässigen Ich-Erzähler referiert. Ettores innere Entwicklung wird dadurch glaubwürdig, dass er auch seine periodischen Zweifel an der Federazione und seinem Engagement darin ehrlich artikuliert. Allerdings sind große Spannungsbögen nicht das vorherrschende Talent des Autors: Gelegentlich wirkt der Gänsemarsch von Schulalltag, Diskrepanz zwischen linksbürgerlichen Mitmenschen und rechtem Pulk sowie Ferientagen mit ersten erotischen Erlebnissen etwas ermüdend. Wir erhalten allerdings einen interessanten Einblick in den italienischen Schulalltag: Für die Oberstufe muss auf jeden Fall die Schule gewechselt werden, Unterricht ist bis nachmittags um vier, die Mündlichkeit hat weit höheren Stellenwert als die schriftliche Ausdrucksfähigkeit, und nach der Schule trotten alle als regelrechte Karawane in den nächsten Park.

Man hofft daher auf einen spektakulären Showdown im letzten Viertel der Erzählung, und ein solcher bahnt sich tatsächlich an, als das linksradikale Pendant zur Federazione, ein obskures „Kollektiv“, die Schule besetzt und es zu einer Prügelei zwischen den verfeindeten Gruppen kommt. Dabei zeigt sich, dass der rechte Leitwolf Giulio und der Chef der Linken, der verhasste „Pisskopf“, sich allzu gut verstehen.

Im letzten Schuljahr lernt Ettore dann den jüngeren Gabrielino kennen, der den älteren Mitschüler bewundert und ihn als Vorbild und Lehrer akzeptiert. Gemeinsam lesen sie Nietzsche und träumen von einer neuen Weltordnung. Nun ist Gabrielino aber ein ganz Radikaler: Er mobbt einen jüdischen Klassenkameraden und treibt Ettore auf eine verbotene Fascho-Demo. Als Gabrielino von der linken Bande zusammengeschlagen wird, rastet Ettore aus und begeht einen folgereichen Racheakt: Er sticht auf ,Pisskopf‘ ein und verletzt ihn lebensgefährlich. Dass er daraufhin nur zu neun Monaten Hausarrest verurteilt wird („genauso lange wie eine Schwangerschaft“), mutet unrealistisch milde an. Danach wechselt der gebrochene Held mal wieder die Schule. Ob er sich endgültig vom Neofaschismus abwendet, erfahren wir ebenso wenig wie sein weiteres Schicksal. Möglicherweise hat Davide Coppo schon eine Fortsetzung in petto…

Dieser im Münchner Kleinverlag Kjona erschienene Roman kann Jugendlichen ab vierzehn Jahren trotz der Mängel, die einem Erstling nun einmal oft anhaften, durchaus empfohlen werden. Trotz (oder wegen) der Unterschiede zwischen dem deutschen und dem italienischen Rechtspopulismus könnte die Lektüre ein wenig dazu beitragen, Herrn Höcke und Konsorten das Wasser abzugraben: Pubertärer Überschwang und missverstandene Pseudophilosophie könnten auch eine Ursache für die politischen Verhältnisse in Thüringen sein.

Bibliographische Angaben

Coppo, Davide
Der Morgen gehört uns
Übersetzung: Jan Schönherr
München: Kjona, 2024
240 Seiten

Leseprobe:

Die Nachmittage nach der Schule bei Gabrielino zu verbringen, gab mir ein Gefühl der Freiheit. Wir rauchten Zigaretten und schlürften Whisky, von dem wir in null Komma nichts beduselt waren. Derart angesäuselt fantasierten wir lang und breit über neue Menschen, Revolutionen und neue Ordnungen. Wir hatten beide einen Narren an Nietzsches Der Wille zur Macht gefressen, das wir absatzweise lasen und begeistert kommentierten. Sätze wie „der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt“, „Sofern wir an die Moral glauben, verurteilen wir das Dasein“ oder „Der bisherige Mensch – gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft“ kamen uns vor wie zu befolgende Gebote, und wir nickten eifrig und riefen: „Genau!“, als hätten wir einen Schleier zerrissen, hinter dem sich tiefste Einsichten verbargen. Wir fanden, Nietzsches Werk sei ein perfekter Text, an dem wir und alle Menschen ihr Leben ausrichten sollten. Über die in der Federazione diskutierten Themen, über Regierungsdebatten oder aktuelle Politik sprachen wir nie, sondern blickten nur im Licht von Nietzsches Worten auf das 20. Jahrhundert zurück, trieben uns gegenseitig wie im Rausch dazu an, auch noch dessen düsterste, grausamste Aspekte als notwendige Schritte eines dialektischen Fortschritts hinzunehmen: die Schwarzhemden, die Italienische Sozialrepublik und die SS, über deren faszinierendste Divisionen wir uns genau informierten, über die „Handschar“ zum Beispiel, die nur aus bosnischen Muslimen bestand, oder die in den letzten Kriegswochen in einer Art letztem, verzweifeltem Aufbäumen aufgestellten „Nibelungen“. Gegenseitig nährten wir unsere Lust am Extremen und wurden immer aufgeregter, je tiefer wir ins Verbotene abtauchten. Hätte jemand Rechenschaft von uns verlangt, wir hätten nur den Kopf geschüttelt und geraunt: „Es muss sein.“

[Anmerkung: Die Jungen wissen nicht, dass Der Wille zur Macht kein authentisches Nietzsche-Werk ist, sondern von seiner Schwester willkürlich und manipulativ aus Nachlass-Fragmenten zusammengeschustert wurde. Erst die historisch-kritische Ausgabe (ausgerechnet von zwei italienischen Wissenschaftlern!) hat hier Abhilfe geschaffen. TF]

Seite 195 f.