Ein weiterer Schwimmbadroman, diesmal mit jüdischem Hintergrund
Von Thomas Fischer 2024
Sommer 1999 in Hamburg. Der Kunststudent Donatus Frey, genannt Donnie, aus einer angesehenen Galeristenfamilie treibt sich mit seinen beiden Kumpels im Freibad herum. Dass er gar nicht schwimmen kann, ist weniger schlimm als die Tatsache, dass Alwin und Marlon rechtsradikale Ansichten haben und auch den schüchternen, sozial isolierten jungen Künstler in diese Szene hineinziehen: Nachdem er und seine falschen Freunde Hakenkreuze in ein Auto geritzt haben, muss Donnie Sozialstunden in einem Altersheim ableisten. Dort lernt er die greise Jüdin Teofila kennen und verliebt sich in deren Enkelin Meggie, die seine beiden Kumpels im Schwimmbad als Jüdin schwer gedisst hatten. Durch einen überraschenden Brieffund (siehe Leseprobe) erfahren die drei, dass Teofilas verschollene Jugendliebe Jakob Liebermann möglicherweise die Shoah überlebt hat und noch in Südfrankreich wohnen könnte. Gemeinsam beschließt das Pärchen, den alten Jakob in Frankreich zu suchen, und so machen sich die beiden in einem geklauten Auto (Tschick-Alarm!) auf den Weg Richtung Mittelmeer.
Tatsächlich finden sie (allzu) schnell den betagten Hotelinhaber Jakob, und in einem Strandbad bringt Meggie ihrem Freund nicht nur Schwimmen bei… Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Der Hobbymaler Jakob erweist sich als Meggies leiblicher Großvater, die beiden Nazi-Kumpels tauchen unvermittelt auf und fackeln das Hotel ab; zudem entpuppt sich Donnies verstorbener Opa als strammer Nazi, der sich an jüdischer Raubkunst bereichert hatte. Dass auch in Donnies Elternhaus ein Werk von Jakob Liebermann hängt, treibt die angestrengte ‚genealogische Symmetrie‘ auf die Spitze.
Schwimmen lernen als plakatives Symbol fürs Erwachsenwerden: Jugendromane, in denen Schwimmbäder eine große Rolle spielen, gibt es neuerdings wie Sand am Meer (Will Gmehlings Freibad, Florian Wackers Dahlenberger, Ewald Arenz‘ Der große Sommer, Arno Franks Seemann vom Siebener, Caroline Wahls 22 Bahnen, Thomas Jedrowskis Im Wasser sind wir schwerelos usw.). Was bei Herlich zunächst als seichte Comig-of-Age-Erzählung begann, gewinnt durch die gegenwärtige Antisemitismus-Debatte tendenziell an psychologischer Tiefe, wobei die Wandlung des Ich-Erzählers vom gedankenlosen Neonazi-Mitläufer zum verständnisvollen Boyfriend einer jungen Jüdin nur oberflächlich plausibilisiert wird und daher nicht recht überzeugend wirkt.
Amüsant dagegen sind die oft aufblitzende Situationskomik und die witzige Dialogführung: Hier ist der Autor eher in seinem Element als bei tiefschürfenden politischen Erörterungen. Der Erstling des jüdischstämmigen Hamburger Betriebswirtes Gabriel Herlich (Jahrgang 1988), im Bielefelder Kleinverlag Pendragon erschienen, hat also einige der üblichen Macken eines Debüts, kann aber als kurzweiliger Beitrag zum Young-Adult-Genre mit aktuellem Antisemitismus-Bezug einem jugendlichen Lesepublikum durchaus empfohlen werden.
Bibliographische Angaben
Gabriel Herlich
Freischwimmer
Bielefeld: Pendragon Verlag 2024
Leseprobe:
[Donnie bringt der alten Teo(fila) eine Mesusa, ein Kästchen mit einem Haussegen, ins Seniorenheim mit, um ihr seine Abkehr vom Antisemitismus zu beweisen.]
Ich ging zur 311 und klopfte. Es blieb zunächst still, dann rief Teo von drinnen.
„Ich kaufe nichts. Verschwinden Sie.“
Vorsichtig öffnete ich die Tür und steckte meinen Kopf rein.
„Ich will Ihnen nichts verkaufen. Ganz im Gegenteil, ich habe ein Geschenk für Sie.“
„Ach, der Junge mit den rosigen Händen. Geschenke sind natürlich immer willkommen.“
Es sah so aus, als hätte Meggie ihr nichts von mir erzählt. Ich lehnte die Tür an […] und kramte die Plastiktüte mit der Mesusa aus meiner Jackentasche hervor.
„Was ist das?“, fragte sie ungeduldig.
„Eine neue Mesusa. Ihre ist doch kaputt.“
Ich überreichte ihr das hölzerne Kästchen, das mit bunten Verzierungen und Schriftzeichen versehen war, die mir fremd vorkamen. Teo nahm sie in die Hand, drehte sie und strich schließlich mit dem Zeigefinger über das Holz.
„Sie sind ja lustig.“
„Was ist lustig?“
„Na, was soll ich denn damit?“
„Sie sagten doch, dass Ihre kaputt sei.“
„So ein Schmonzes. Wie soll die denn kaputt gehen? Außerdem kommt es nicht auf die Hülle, sondern den Inhalt an.“
Sie stand auf und ging zur Mesusa, die an der Tür hing.
„Da ist eine kleine Pergamentrolle mit dem Schma Jisrael drin. Das soll uns Juden an unser Judentum erinnern.“
„Was bedeutet Schma Jisrael?“
„Es ist unser Glaubensbekenntnis. Glauben Sie an Gott?“, fragte Teo, nahm die Mesusa von dem Türrahmen und setzte sich zurück in den Sessel.
„Sie brauchen nichts zu sagen. Ich kenne die Antwort bereits. Ihr jungen Menschen seid zu weit weg vom Tod, um zu glauben. Das kommt noch, keine Sorge.“
Sie befeuchtete ihre Finger und zog eine Schutzfolie vom Rücken der Mesusa ab. „Ich zeige Ihnen das Schma Jisrael.“
Teo nahm eine winzig kleine Pergamentrolle und reichte sie mir. Ich faltete sie auf und stellte fest, dass der Text auf Deutsch geschrieben stand. Es waren nur wenige Worte, offensichtlich ein Brief.
„Wer ist Jakob?“, fragte ich.
Sie sah mich fragend an.
„Wovon reden Sie?“
„Das ist ein Brief von einem Jakob.“
Sie beugte sich vor, nahm das Pergament in die Hand und sah es an.
„Lesen Sie es vor. Meine Lesebrille liegt im Bad“, sagte sie und gab es mir zurück.
Ich las laut vor.
Liebste Teo,
triff mich, wenn das alles vorbei ist. Mein Onkel hat einen Bauernhof in Aix-les-Bains. Dort werde ich auf dich warten.
In ewiger Liebe,
Jakob
[…] Teo sank in den Sessel, ihr Blick wanderte ziellos im Raum umher, als würde sie etwas suchen, das längst verloren war. Sie öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, doch es kamen nur zitternde Laute heraus. Diese drei Sätze hatten ihr ihre gesamte Schlagfertigkeit geraubt. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn sie einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erlitt? Seite 114 ff.