Der Vogelschorsch -
Die „Verzweigungen“ einer außergewöhnlichen Freundschaft
von Martha Hachenberg, Janina Sohn, Franziska Wilkes & Aileen Wittköpper
„Der Vogelschorsch“ von Hannes Wirlinger ist ein berührender Jugendroman über eine ganz besondere Freundschaft, über Verbundenheit und die Erkenntnis, dass Freud und Leid nah bei einander liegen können.
In einer Rückschau, die aber immer nah an der Hauptgeschichte bleibt, erinnert sich Lena an ihre Zeit als 14-Jährige in einem kleinen österreichischen Dorf zurück. Ihr Alltag ist geprägt durch ständige Streitereien der Eltern, der damit verbundenen Angst einer Trennung und den Tücken des Erwachsenwerdens. Ihre Freizeit verbringt Lena größtenteils mit ihren Freunden, dem Mühltaler Max und dem Lederer Lukas. Schon die Namen spiegeln den österreichischen Dialekt des Autors wieder, der sich durch das ganze Buch zieht und bei dem so manches Mal ein Wörterbuch hilfreich gewesen wäre. So ist Lena wieder mit dem Mühltaler Max und dem Lederer Lukas zusammen, als sie eines Tages Georg, den Vogelschorsch, kennenlernt. Er ist ein außergewöhnlicher Junge, der stets mit Lodenmantel, weißem Hemd, Bügelfaltenhose und klobigen Schuhen erscheint. Seinen Spitznamen verdankt er seiner Liebe zu den Vögeln, die für ihn eine besondere Bewandtnis haben und als Seelenträger geliebter Menschen erscheinen können. Diese Liebe ist auch die Basis für die Freundschaft der vollkommen verschiedenen Charaktere Lena und Georg. Nach ihrer ersten Begegnung ändert sich nicht nur Lenas Leben schlagartig, auch Georg durchlebt einschneidende Veränderungen.
Man könnte zu Beginn des Buches daran zweifeln, dass es einem 49-jährigen Autor gelingt, sich authentisch in die Lage eines 14-jährigen Mädchens zu versetzen. Doch Wirlinger schafft es den Leser*innen einen guten Einblick in die Gefühlswelt von Lena zu ermöglichen. Diese ist gezeichnet von dem ständigen Hin und Her zwischen Kind- und Erwachsensein, zwischen Liebe und Freundschaft und der permanenten Zerrissenheit zwischen der angesagten Clique und dem Außenseiter Vogelschorsch. Wirlinger spiegelt dadurch die Gefühlswelt einer Teenagerin sehr realistisch wider, was die Identifizierung pubertärer Leser*innen mit der Protagonistin erleichtert. Dies unterstreicht auch der einfache und verständliche Schreibstil.
Die Adoleszenz-Geschichte Lenas und die damit verbundenen „Liebeleien“ bieten als Nebengeschichten eine willkommene Abwechslung zur Schicksalstragödie des Vogelschorsch.
Dennoch wirken sie teilweise überladen und lenken von der eigentlichen Erzählung über den Vogelschorsch, wie sie durch den Titel suggeriert wird, ab. Trotzdem baut sich im Verlauf des Romans eine immense Spannung auf, welche bis zum Schluss anhält und immer wieder die Frage aufwirft: Was passiert als nächstes?
In dem Roman werden besonders existentielle Themen wie Behinderung, häusliche Gewalt und der Tod aufgegriffen. Diese Themen spielen im Leben des Vogelschorsch‘ eine große Rolle. So besucht dieser beispielsweise eine andere Schule als Lena und die anderen Kinder aus dem Dorf, da auf seiner Schule Kinder mit besonderen Bedürfnissen unterrichtet werden. Lena nutzt positive Konnotationen wie „außergewöhnlich“ oder „besonders“, um den Vogelschorsch zu beschreiben, und verzichtet durch diese auf den, oft negativ behafteten, Behinderungsbegriff. Sie nimmt ihn an, so wie er ist. Auf Grund dessen sind die Weichen für eine Inklusion gestellt. Ob diese jedoch gelingt oder ob die prägenden Veränderungen im Leben des Teenagers Georg eine zu große Hürde darstellen, beantwortet sich im Verlauf des Buches.
Die emotionale Stimmung des Romans, die oft durch Traurigkeit und aufziehende Kälte geprägt ist, wird auch durch die düsteren Illustrationen von Ulrike Möltgen verstärkt.
Zudem sollte es den Leser*Innen auf Grund der teils vorherrschenden Brutalität und der oben beschriebenen depressiven Stimmung ermöglicht werden, sich über das Buch und die damit verbundenen Gefühle, auszutauschen, damit keine falschen Signale gesendet werden.
Schlussendlich handelt es sich bei „Der Vogelschorsch“ um einen gelungenen Jugendroman, der sich auf Grund der Komplexität und Ambivalenz hervorragend für den Einsatz im Schulunterricht eignet.