skip to content

„Oscar ist tot, weil ich ihm beim Sterben zugesehen habe.“

Victor Jestins Romandebüt "Hitze"

von Thomas Fischer (2020)

Sommerferien in einem spießigen Campinglager an der französischen Küste. Der siebzehnjährige Léonard beobachtet den Suizid eines anderen Jungen. Anstatt die Tat zu verhindern, verbuddelt er den Leichnam in einer Düne.

So spektakulär beginnt der kurze Roman Hitze von Victor Jestin, und so ratlos ist man nach den ersten Seiten. Erst ganz allmählich wird der „acte gratuit“, die seit André Gide in der französischen Literatur bekannte, scheinbar völlig sinnlose Handlungsweise verständlich. Zwischen den Jugendlichen im Ferienlager herrscht nämlich ein nicht ungefährliches Bäumchen-wechsle-dich-Spiel: Die notorischen Machos schleppen die Mädchen ab, und eher schüchterne Jungen wie der dünne Léonard, der nicht einmal zum Schwimmen sein T-Shirt ablegt, und sein Kumpel Louis gehen leer aus. Erst als sich die schöne Luce für den introvertierten Jungen interessiert, erlebt er sein nicht besonders spektakuläres ‚erstes Mal‘: „Nichts daran war brutal. […] Ich kam, und die Welt blieb dieselbe“.

Letzteres stimmt allerdings nicht, denn Luce ist, oder besser war, die Freundin des Suizidenten Oscar, und Léonard muss sich mit der Vertuschung dieser Tat, die nun nachträglich durch Eifersucht motiviert ist, auseinandersetzen. Der Gedanke an Oscars Leiche im Sand verfolgt ihn nun gnadenlos. Wie er, zwischen Sex und Tod oszillierend, völlig übermüdet durch die sommerliche Gluthitze taumelt, wird in einer bald kaltschnäuzigen, bald sentimentalen Sprache geschildert, die den Ich-Erzähler sich wider Willen vollkommen seelisch entblößen lässt. Seine Unfähigkeit, sich mitzuteilen, erinnert bisweilen an Eugène Ionescos Theaterstücke mit ihrem Leitmotiv der Unmöglichkeit von Kommunikation. Nach einer Flutwelle, die das Versteck des Leichnams zu enthüllen droht, bricht Léonard zusammen und stellt sich der Polizei: „Ich habe Oscar umgebracht.“

Natürlich schreit dieser Roman geradezu nach einem Vergleich mit jenem berühmten inneren Monolog, mit dem ein Mörder, der gleichzeitig um seine Mutter trauert (oder auch nicht), in die Weltliteratur eingegangen ist: Der Fremde von Albert Camus. Auch hier scheitert die Hauptfigur letztlich mit ihrer Taktik, emotionale Überforderung durch ostentative Gleichgültigkeit zu neutralisieren, und auch hier dient die mediterrane Hitze als Symbol für die tragische Übersteigerung menschlicher Beziehungen. Doch Victor Jestin verlegt die Handlung aus der Erwachsenenwelt in die zusätzlich hormongesättigte Atmosphäre eines französischen Zeltlagers und spart nicht mit grotesken Schilderungen wie dem als rosa Kaninchen verkleideten Animateur, der sich zum Schluss als frustrierter älterer Mann herausstellt: „Auf der Kapuze, die wie ein schlecht abgetrennter Kopf auf seinem Rücken hing, blieb das große aufgemalte Lächeln zurück.“ Und Léonards Ferienfreund Louis, der seitenweise mit seinen weiblichen Eroberungen prahlt, stellt sich zum Schluss als schwul heraus…

Der 1994 in Nantes geborene Autor Victor Jestin hat laut Klappentext in Paris „écriture audiovisuelle“ studiert und bislang erst zwei Drehbücher verfasst. Dies ist sein Romandebüt, und er stellt sich damit in die Reihe der Schilderungen gesellschaftskritischer Einzelgänger, die als moderne Simplicissimi durch eine zu kompliziert gewordene Realität schwanken, wie man sie von Michel Houellebecq (Elementarteilchen spielt zum Teil in einem FKK-Camp) und Frédéric Beigbeder (Neununddreißigneunzig mit einem völlig unmotivierten Mord) kennt. Auch ihre Texte wirken mit häufigen Szenenwechseln und knappen Dialogen gelegentlich wie nacherzählte Filme.

Dieser Erstling ist insgesamt als eine bemerkenswerte psychologische tour de force zu bezeichnen. Er kann Jugendlichen gerade wegen seiner Pointiertheit und straffen Handlungsführung durchaus empfohlen werden. Ob Jestin auch die längere Romanform beherrscht und sich von seinen Anfängen als Filmautor lösen kann, wird die Zukunft weisen.

Leseprobe:
Auf dem Platz war das Konzert in vollem Gange. Die Rockgruppe des Campingplatzes spielte ein Cover von Jump von Van Halen. Es klang nicht sehr gut. Sie hatten keinen Synthesizer für die großen Akkorde des Intros, also spielten sie sie mit der Trompete. Ich hörte sie aus dem Auto, als wir am Platz vorbeifuhren. Es waren Eltern, Kinder und ein paar vereinzelte Jugendliche dort: Die Abgehängten vom Campingplatz, denen Cola lieber als Bier, eine freundliche Kirmes lieber als die Party am Strand war. Die abgehängt, unsicher, bedrückt, resigniert, zu hässlich waren, um es zu versuchen. Heimliche Homos, dicke Kerle, dicke Mädchen, Ausländer, noch zu Junge, schon zu Alte, alle gemeinsam zwischen Eltern und Kindern, um nicht zu leiden, alle hier und fröhlich, und doch alles Verlierer, Gefickte, zurückgelassen am Straßenrand unserer Jugend.

Unser Auto entfernte sich. Mein Handy vibrierte mehrmals. Luce rief mich an, aber ich ging nicht ran. Ich wollte, dass sie mich für tot hielt.

Wir parkten an unserem Zeltplatz. Die Lichterkette war erbärmlich. Meine Eltern wollten erneut mit mir sprechen, verstehen, was mit ihrem Sohn nicht stimmte, aber ich ging davon. […]

Plötzlich dachte ich, dass die Leiche schlecht versteckt war. Nachlässig verborgen wie ein Kind hinter einem Vorhang. Ein wenig Wind würde genügen, um den Stoff zu heben, die Haut und den erdrosselten Hals. Das fiel mir nun ein. Das fiel mir nun ein, weil ich bis dahin vielleicht gewollt hatte, dass Oscar schlecht versteckt war, damit man ihn ohne meine Hilfe fand. Aber ich hätte ihn tiefer vergraben sollen. So tief, dass erst Ausgrabungen im nächsten Jahrhundert ihn freilegen könnten und dann nur noch Knochen übrig wären, eine ferne Erinnerung, und ich wäre tot und der Campingplatz abgerissen. (S. 133-135)