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Eine Sammlung außergewöhnlicher Liebesgeschichten:

Die Anthologie „Liebe – Geschichten über das größte Gefühl der Welt“ (2020)

von Thomas Fischer (2020)

Der Diogenes-Verlag ist bekannt für seine zahlreichen Anthologien, die von Feriengeschichten über Krimis bis zu Kinder- und Jugenderzählungen reichen und sich hervorragend für die sommerliche Strandlektüre eignen. Auch wenn Corona dieses Jahr die Urlaubsmöglichkeiten stark einschränkt, lohnt es sich, eine dieser Sammlungen einmal näher zu betrachten.

Die druckfrische Anthologie Liebe – Geschichten über das größte Gefühl der Welt, ausgewählt von Anna von Planta und Noemi Bünzli, enthält zehn Geschichten von sechs Autorinnen und vier männlichen Schriftstellern. Auffällig ist, dass der Schwerpunkt der Texte auf der Darstellung homosexueller Beziehungen liegt. Der belanglose Titel des Bandes gibt darüber keine Auskunft; höchstens das Umschlagbild mit sechs Vögeln in Regenbogenfarben könnte ein Hinweis darauf sein.

Obwohl es sich nicht direkt um ein Buch für Jugendliche handelt, ist doch die Liebe in all ihren Spielarten eines der wichtigsten Themen für heranwachsende Jungen und Mädchen; daher kann die vorliegende Blütenlese durchaus für diese Zielgruppe empfohlen werden.

Zunächst die heterosexuelle Fraktion: Die Niederländerin Connie Palmen berichtet in ihrem Romanauszug Er – ich über die stürmische Liebe zu ihrem Partner Ischa Meijer. Dass diese Beziehung mit dem plötzlichen Tod des geliebten Mannes endet, erfährt man allerdings nur bei der Lektüre des gesamten Romans. Tschingis Aitmatows berühmte Liebesgeschichte Dshamilja, die ebenfalls nur als Auszug abgedruckt ist, stellt sicherlich den konventionellsten (und auch ältesten) Text in dieser Sammlung dar. Der verbrauchte Ruhm des „Sozialistischen Realismus“ weht durch die Seiten des einstigen kirgisischen Starautors. Die Schweizerin Simone Lappert ist mit einem langweiligen Romananfang (Finn aus Der Sprung) vertreten, und der große John Irving erzählt von der Liebe des pubertierenden William zur älteren Bibliothekarin Miss Frost; auch hier muss man den ganzen Roman In einer Person lesen, um die Ahnung bestätigt zu bekommen, dass es sich bei der Dame um eine Transsexuelle handelt.

Damit sind wir auch schon bei alternativen Lebens- und Liebeskonzepten angelangt. Sehr explizit wird die homosexuelle Beziehung zweier Cowboys in der Kurzgeschichte Brokeback Mountain von Annie Proulx dargestellt. Diese sehr unglücklich endende Liebe hat durch die Verfilmung von 2005 Weltruhm erlangt. Ebenso deutlich schildert der junge Amerikaner mit vietnamesischen Wurzeln Ocean Vuong sein erstes Mal mit einem Arbeitskollegen in Neongelber Gatorade. Dies ist auch die spektakulärste Passage aus dem ansonsten leicht überschätzten Erstlingsroman Auf Erden sind wir kurz grandios. André Acimans Duschraum-Schwärmerei für den unerreichbaren Manfred ist Teil des Romans Fünf Lieben lang. Sein hypertropher, parataktischer, gleichsam barocker Stil lässt die Hingabe des Verfassers an das Objekt seiner Begierde überaus deutlich werden.

Auch die lesbische Liebe kommt nicht zu kurz: Die Krimiautorin Patricia Highsmith hatte ihre Veranlagung zu Lebzeiten nicht an die große Glocke gehängt. Erst nach ihrem Tod fand man einen Roman mit dem Titel Carol oder Salz und sein Preis, aus dem hier das Kapitel The Bloomingdale Story zu lesen ist, in dem die beiden Protagonistinnen, Verkäuferinnen mit markantem Altersunterschied, in einem New Yorker Kaufhaus einander begegnen. Erheblich nüchterner geht es in Miranda Julys Erzählung Etwas, das nichts braucht zu, die das wechselhafte Verhältnis der Ich-Erzählerin zu ihrer kaltschnäuzigen Freundin Pip schildert.

Der rätselhafteste Text der Sammlung ist schließlich Ali Smiths Die erste Person, deren elliptischer Duktus nur bei genauer Lektüre die Konjektur zulässt, dass es sich bei diesem Liebespaar um zwei Frauen handelt.

Sollte man eine Textsammlung, die in oft überdeutlicher Sprache alle Facetten menschlicher Beziehungen ausleuchtet und auch vor Kraftausdrücken und der Darstellung von Prostitution (bei Miranda July) nicht zurückschreckt, Jugendlichen zur Lektüre empfehlen? Diese Frage muss, ebenso wie die, ob man über Hitler lachen darf, mit einem klaren Ja beantwortet werden. Keiner der Texte, so unterschiedlich sie in Stil, Inhalt und Intention sein mögen, ist als pornographisch zu bewerten; niemals steht die banale sexuelle Handlung im Vordergrund. Hier können junge Leute lernen, neben der körperlichen auch die geistigen und seelischen Komponenten der Liebe wahrzunehmen und in ihr Leben zu integrieren. So kann das sinnvoll gewählte Cover mit den verschiedenfarbigen Vögeln als Symbol dienen, sowohl die augenfällige Verschiedenheit als auch die Gleichwertigkeit aller möglichen Spielarten der Liebe zu betonen.

 

Leseprobe:

Ich weiß nichts über dich. Ich weiß nicht, wie du heißt, wo du wohnst, was du machst. Aber ich sehe dich jeden Morgen nackt. Ich sehe deinen Schwanz, deine Eier, deinen Arsch, alles. Ich weiß, wie du dir die Zähne putzt, ich weiß, wie sich deine Schulterblätter bewegen, wenn du dich rasierst, ich weiß, dass du nach dem Rasieren kurz unter die Dusche steigst und deine Haut anschließend glänzt, ich weiß genau, wie du dir das Handtuch um die Hüften schlingst und wie du, für diesen kurzen Augenblick im Tennisheim, nach dem ich jeden Morgen giere, das Handtuch auf die Bank fallen lässt und nach dem Abtrocknen nackt dastehst. Selbst wenn ich nicht hinschaue, genieße ich den Gedanken, dass du direkt neben mir nackt dastehst, genieße den Gedanken, dass ich von deiner Nacktheit wissen soll, dass dir ganz sicher nicht entgangen ist, wie sehr ich mich nach deinem nackten Körper sehne und dass ich jede Nacht einschlafe mit der Vorstellung, in deinen Armen zu liegen und du liegst in meinen. Ich weiß, welche Seife du benutzt, wie lange du zum Kämmen deiner nassen Haare brauchst, wie du dir Creme auf die Ellbogen schmierst, auf die Knie, die Beine, und in jeden zarten Zehenzwischenraum, großzügig, aber nicht verschwenderisch mit dieser Creme, die du in deinem Schließfach aufbewahrst.

[Das geht noch eine Weile so weiter…]

Beginn von André Aciman: Manfred, S. 215