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Heimat ist mehr als ein (W)Ort             

Von Caroline Kohnen und Daniel Lemke (2020)

Von jetzt auf gleich, zumindest fühlt es sich für Emma so an, zieht sie mit ihrer Familie aus Dublin ins ostdeutsche Dorf Velgow in Mecklenburg-Vorpommern. Von der Großstadt ins Provinzkaff. Aus der Heimat in die Fremde. Weg. – Emma plagt Heimweh und sie möchte am liebsten sofort wieder zurück back home. Doch in der Schule lernt sie Levin kennen, einen Jungen mit ausgefallenem Kleidungsstil und einer ebenfalls ausgefallenen Familie. Doch was jetzt folgt, ist keine konventionelle Liebesgeschichte: Levin bietet Emma an, ihr bei der Heimreise zu helfen und einen ‚Fluchtplan‘ zu entwickeln...

Susan Krellers neuestes Werk „Elektrische Fische“ thematisiert Heimat, Sehnsucht und Vermissen. Den Leser*innen begegnen zwei junge Menschen, die beide ein Stück weit von der Vergangenheit ihrer Mütter abhängig sind. Verändern können Emma und Levin ihr Leben deshalb auch nur teilweise. Während Levin mit der Krankheit seiner Mutter umgehen muss, sind es für Emma vor allen Dingen die kleinen Unterschiede zwischen Irland und Deutschland, die ihr Heimweh auslösen: Das zu harte deutsche Brot, die unterschiedlichen Teebeutel, selbst die Pünktlichkeit des Schulbusses lassen Emma an Dublin denken. Dieser ‚Romantisierung‘ des irischen Alltags wird das – nur auf den ersten Blick – trostlose Leben in Velgow gegenübergestellt. Das Dorf, die Umgebung und vor allem die Menschen werden jedoch mit einer Liebe zum Detail beschrieben, die nicht nur bei Emma mit zunehmender Dauer das Gefühl aufkommen lässt, dass es sich dort vielleicht doch aushalten ließe: Vielleicht kann Velgow mit der Zeit zur Heimat werden. Vielleicht.

Ebenso liebevoll und gekonnt wie die Gefühlswelt von Emma offengelegt wird, beschreibt der Roman ihre Identitätsfindung zwischen West und Ost, zwischen Irland und Deutschland, zwischen Irischer- und Ostsee. Dabei zieht sich Emmas Sprachvermischung zwischen Englisch und Deutsch wie ein roter Faden durch das Buch. Besonders gut gelungen ist, dass der Anteil der englischen Wörter im Buch abnimmt, je mehr Emma sich an das Leben in Deutschland gewöhnt. (Für alle Begriffe, die nicht allgemeinhin bekannt sind, hat die Autorin ein unterhaltsames Glossar angelegt.)

Der 2015 für ihren Roman „Schneeriese“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichneten Autorin gelingt es in „Elektrische Fische“ mühelos, zwischen ruhigen Abschnitten und abenteuerlicheren Ereignissen zu wechseln. Von jetzt auf gleich, zumindest fühlt es sich für uns so an, kommt es für Emma und Levin und alle anderen am Tag der Rückreise dann doch anders, als geplant: Man kann eben nicht alles beeinflussen. Vor allem nicht, was Heimat ist. Oder wo.  

Kreller, Susan
Elektrische Fische
Hamburg: Carlsen Verlag GmbH, 2019
Seiten: 191
Ab 12 Jahren

Leseprobe:
„Kannst du mir jetzt bitte mal sagen, was elektrische Fische sind? Und dann noch, was deine Mutter damit zu tun hat?“
Levin antwortet so schnell, wie man auf einem Schulhof eben so antwortet: „Die haben Organe, mit denen sie Strom erzeugen können.“
„Wait, like …electric eels?“
Levin lacht mich an, und erst jetzt merke ich, dass ich das auf Englisch gesagt habe, es passiert mir immer wieder: Manchmal sprechen meine Sprachen miteinander.  (S. 79)