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Wäre es nicht toll, in einem Computerspiel zu leben?

Von Konstantin Veil (12 Jahre)

Diese Frage stellt Ursula Poznanski in ihrem neuen Roman „Cryptos“. Die Welt – irgendwann nach dem Jahr 2150 – ist durch den Klimawandel weitestgehend zerstört, deshalb flüchten die meisten Menschen in virtuelle Realitäten. Ein Großkonzern ist auf die Idee gekommen, sehr viele verschiedene und sehr interessante Welten zu programmieren. Einige funktionieren wie ein Ballerspiel, andere sind sehr friedlich und harmonisch, es gibt z.B. Urlaubs-, Arbeits-, Vergangenheits- und Strafwelten und noch vieles mehr. Zutritt zu den virtuellen Welten erhalten die Nutzer*innen über Kapseln, die der Konzern in alten Gebäuden aufstellt. Die Kapseln funktionieren wie ein Bett, man legt sich hinein, wird über eine Art Raumanzug mit Nährstoffen versorgt und in die Welt seiner Wahl geschickt.

Die Hauptfigur dieses Jugendthrillers Jana programmiert solche Welten, und alles scheint in bester Ordnung, doch dann geschieht – ausgerechnet in ihrer friedlichsten Welt – plötzlich ein Mord. Und Jana will den Ursachen unbedingt selber auf den Grund gehen. Aber was, wenn sich alle Welten gegen sie verschworen haben? Ähnlich wie in dem Steven Spielberg-Film „Ready Player One“ aus dem Jahr 2018 wechseln die Figuren von nun an beständig zwischen dem echten Leben und den virtuellen Welten. Wobei bei Spielberg Spannung und Action dominieren, während „Cryptos“ eher einen Kriminalfall erzählt.

Der Roman hat mir sehr gut gefallen und ich habe ihn in zwei Tagen durchgelesen, und zwar auch, weil er sehr spannend war. Außerdem finde ich die Idee interessant, zumindest ab und an in einer virtuellen Welt zu leben. Die Menschen im Buch empfinden allerdings schon den notwendigen, täglichen Realitätsstopp als lästig, obwohl der nur 40 Minuten dauert. In den verschiedenen Welten kann sich auch jeder – leichter und viel umfassender als in der Realität – verbessern und sich selber schöner, stärker, fitter, schlanker oder größer machen. Das kann man auch als Kritik daran verstehen, dass der Einsatz von Filtern in sozialen Netzwerken oft die Realität übertüncht. Ursula Poznanski kritisiert in „Cryptos“ zudem die soziale Ungerechtigkeit, die Gesellschaft in Cryptos wird als sehr ungerecht dargestellt: Die wenigen Reichen und Mächtigen haben vielen Rechte, die Mehrheit der Menschen dagegen wird durch die virtuellen Angebote einfach ruhiggestellt. So gesehen lautet die Antwort auf die Frage, ob es nicht toll wäre, in einem Computerspiel zu leben: nein.

Poznanski, Ursula
CRYPTOS
Loewe Verlag München 2020
447 Seiten
Jugendthriller ab 12 Jahre

 

Leseprobe:
Die Kapsel öffnet sich mit einem Zischen, das dem des Dämon nicht unähnlich ist. Ich reiße mir die Maske vom Gesicht und setze mich auf. Sich grillen zu lassen ist natürlich auch eine Möglichkeit der Rückkehr, allerdings tut es echt weh.
Ich stemme mich hoch und steige mühsam aus der Kapsel. Wie jedes Mal nach einem Aufenthalt in einer der Welten fühlt sich mein Körper doppelt so schwer und wie eingerostet an. Auch das ist ein Grund, warum die Menschen keine Lust mehr auf die Realität haben. Hier sind sie ungelenker, behäbiger und - nennen wir es ruhig beim Namen - hässlicher. Wer neunzig Prozent seiner wachen Zeit in den Welten verbringt, erträgt beim Zähneputzen seinen Anblick im Spiegel meist nur noch schwer.
Ich schäle mich aus dem Overall, jeder Handgriff ist mühsam. Meine Haut prickelt, meine Fingerspitzen fühlen sich taub an. Es dauert gut zehn Minuten, bis ich meine normalen Sachen angezogen habe.
Als ich nach draußen trete, wird es schlimmer. Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel und mein Kreislauf protestiert. Ich brauche etwas zu trinken. Die beiden Arbeiter von vorhin sitzen im Schatten der Bäume, die zwischen den Gebäuden gepflanzt wurden, und würdigen mich keines Blickes.
„Du warst lange unterwegs“, begrüßt mich Matisse.
„Ja. Ich musste über Macandor gehen, der Exit-Point im Rathaus von Kerrybrook funktioniert nicht.“
Seite 24f.