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„Ein ganzer Sommer unter dem Himmel“

Von Thomas Fischer (2020)

Das Freibad ist ein beliebter Schauplatz für Kinder- und Jugendliteratur: Zu nennen wären hier aus neuerer Zeit etwa Martina Wildners Königin des Sprungturms (2013) oder das eher für junge Erwachsene geeignete Dahlenberger von Florian Wacker (2015). Denn alle, die das Freibad lieben, kennen diese Typen, die fiesen und die netten, die dort Tag für Tag herumlaufen und auch in Will Gmehlings Roman Freibad vorkommen: Der dicke Bademeister mit dem strengen Blick, der nette Pommesverkäufer, der junge Rettungsschwimmer, von dem sich besonders die weibliche Jugend gerne einmal wiederbeleben ließe… Und die Besucherschaft ist ebenso gemischt: Badekappen tragende Omas, die bei Wind und Wetter unerschütterlich ihre Bahnen ziehen, sorglos picknickende Großfamilien, freche Knirpse, die verbotenerweise vom Beckenrand springen – ja, und tolldreiste Kerle, die sich vom Zehnerturm trauen.

Zu diesen will auch der zehneinhalbjährige Alfred Bukowski gehören, der zu seinem Verdruss immer Alf genannt wird, „wie der Außerirdische in dieser amerikanischen Serie“. Gemeinsam mit seinen Geschwistern Katinka und Robbie hat er ein Kleinkind vor dem Ertrinken gerettet, und zur Belohnung bekommt das Trio Dauerkarten für das Freibad geschenkt. Da die Familie wahrlich nicht mit materiellen Gütern gesegnet ist und Ferienreisen leider nicht finanzierbar sind, freuen sich die Drei über den Ersatzurlaub in der Heimatstadt umso mehr – ihr selbstauferlegtes Ferienprogramm hat es aber auch in sich: Robbie soll endlich Schwimmen lernen, Katinka will zwanzig Bahnen Kraulen am Stück schaffen – ja, und auf Alf wartet der Zehner.

Die Leser*innen erleben diesen Sommer aus der Sicht des Ich-Erzählers Alfred mit, der im Laufe einer Badesaison sichtlich wächst, und das nicht nur körperlich: Ebenso wie seine Geschwister erreicht er sein Ziel, er verliebt sich in Johanna, die schöne Tochter des Bademeisters, die den jungen Turmspringer auch mag – und zum Schluss erleben alle ein nächtliches Abenteuer in ihrem geliebten Freibad.

Der spätberufene Kinderbuchautor Will Gmehling, der wie Wolfgang Herrndorf zunächst in den bildenden Künsten sein Auskommen suchte, schafft es ebenso wie dieser, die jungen Hauptfiguren meistens in einer Sprache reden zu lassen, die jugendlich wirkt, ohne allzu anbiedernd oder künstlich zu sein. Herrndorfs Grundsätze für eine spannende Romanhandlung, die er mit Bezug auf Tschick formuliert hat: „Schnelle Eliminierung der erwachsenen Bezugspersonen, große Reise, viel Wasser“, sind hier fast alle eingelöst. Zwar gibt es äußerlich gar keine Reise, das tägliche und genau geschilderte Ritual der Wanderung zum Schwimmbad, die fast den Charakter einer Initiation hat, mag jedoch als Ersatz dienen.

Manche von Gmehlings Charakterisierungen, auch der zahlreichen Nebenfiguren, sind ebenso liebevoll wie amüsant: Besonders die drei afrikanischen Jungs Amadou, Abdoul und Issouf, mit denen sich die eifrig Französisch lernende Katinka anfreundet, der leicht autistische und meist stumme Robbie, der jedoch bei Herausforderungen beeindruckend über sich hinauswächst, und die liebreizende Johanna, die lernt, sich gegen ihren überstrengen Vater durchzusetzen, sind durchaus glaubwürdig geschildert.

Kritisch anzumerken wäre lediglich, dass manche Details nicht mit dem jungen Alter der Kinder zusammenpassen: Ein freiwillig und verbissen Fremdsprachen lernendes kleines Mädchen, ein mir nichts, dir nichts vom höchsten Sprungturm hüpfender Zehnjähriger, eine Gruppe im Grundschulalter, die nachts ins Schwimmbad einbricht? Besonders letzteres ist eine Mutprobe, die weit eher einer Bande von Teenagern vier bis fünf Lebensjahre später zuzutrauen wäre. Hier stimmen Alter und Sprache der Figuren gelegentlich nicht recht mit ihren Handlungen überein. Auch nennen Geschwister einander nicht „mein Süßer“ oder „Liebling“, und der Ausdruck „voll krass“ ist wohl ebenfalls nicht mehr ganz zeitgemäß.

Doch abgesehen von solchen Kleinigkeiten ist dieser Band ein gelungener Schmöker für den Sommerurlaub, am besten im heimatlichen Freibad. Im Folgeband Nächste Runde (2020) erfahren wir dann, wie Alfred sich beim Boxen buchstäblich durchschlägt.

Gmehling, Will: Freibad.
Wuppertal: Hammer-Verlag 2019 
155 Seiten

Leseprobe:

Zu Hause freuten sich alle.
„Willst du bald Bronze machen?“, fragte Papa.
Robbie wollte wissen, was man da machen musste.
„200 Meter schwimmen, ein bisschen Tieftauchen und dann vom Einer springen“, sagte Papa.
„Nee“, antwortete Robbie.
„Warum denn nicht?“
„Erst soll Alf vom Zehner runter!“
Alle guckten mich an. Katinka grinste in die Luft.
„Mach ich ja“, sagte ich. „Vom Siebeneinhalber bin ich ja schon.“
„Lass dir Zeit, Alf.“ Mama legte mir die Hand auf die Schulter und fing an, mir den Nacken zu massieren. Das konnte sie total gut. „Lass dich bloß nicht verrückt machen.“
„Alf hat ein Rendezvous gehabt“, rief Katinka. „Er ist verliebt!“
Sie guckten mich schon wieder alle an. Langsam nervte das.
„Ist das das Mädchen, von dem du mir erzählt hast?“, fragte Papa. „Wie heißt die noch gleich?“
„Johanna“, sagte Katinka. „Sie ist ziemlich schick. Fast so wie eine Parisfrau. Alf hat ihr was spendiert. Aber dann kam ihr Papa und hat sie reingeholt. Alf war traurig. Weil, er ist ja verliebt.“
Sie machte Kopfstand auf dem Teppich und sang vor sich hin. „Alf ist verliebt, schön, dass es das gibt! La la lalala!“
Am liebsten hätte ich ihr eine reingehauen.
„Blöde Ziege“, rief ich und lief raus. Jetzt hätte ich gern irgendwo irgendwas gehabt, wo ich allein sein konnte. In unserer Siedlung gab es aber nichts, ich meine, keinen Wald oder so was. Nur Supermärkte und Parkplätze. Ich war auf einmal traurig, obwohl ich gar nicht wusste, warum.
Ich lief also nur so durch die Gegend, bis mir mein alter Spielplatz wieder einfiel, wo ich früher andauernd gewesen war, als kleiner Junge. Da ging ich hin.
Ich setzte mich auf die Schaukel und schaukelte. Ich rutschte die Rutsche runter. Ich setzte mich sogar in den Sandkasten.
Außer mir war niemand hier. Hier war es richtig gut. Hier konnte ich in Ruhe nachdenken. Über Johanna und mich. Über den Übernachtungsplan. Und überhaupt.

(S. 89 f.)