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Cornelia Funke:
Reckless. Steinernes Fleisch
Gefunden und erzählt von Cornelia Funke und Lionel Wigram
Mit Illustrationen der Autorin
Hamburg: Cecilie Dressler 2010
349 Seiten
€ 19,95
Ab 13 Jahren
Illustriertes Jugendbuch

Funke, Cornelia (Text und Illustration): Reckless. Steinernes Fleisch

Von Lebkuchenhäusern und Kinderfresserinnen

von Silke Palmen (2010)

Einsam und verlassen leben die Brüder Jacob und Will gemeinsam mit ihrer Mutter in einer Welt, aus der vor einem Jahr der Vater auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Seitdem bleibt dessen Arbeitszimmer verschlossen. Doch Jacob, der ältere der beiden Brüder, stiehlt sich immer wieder in den Raum, um dort Antworten auf seine Fragen zu finden. Eines Nachts entdeckt der Zwölfjährige eine geheimnisvolle Notiz: „Der Spiegel öffnet sich nur für den, der sich selbst nicht sieht.“ Dem Jungen ist klar, dass nur der geheimnisvolle, rosenumrankte Spiegel des Vaters gemeint sein kann. In dieser Nacht öffnet Jacob zum ersten Mal das Tor zu einer märchenhaft düsteren, magischen Parallelwelt.

Zwölf Jahre lang behält Jacob sein Geheimnis für sich. Fasziniert und wie gefangen stattet er der mysteriösen Welt hinter dem Spiegel immer öfter, immer längere Besuche ab, bis er eines Tages den alles entscheidenden Fehler macht: In einem ungeduldigen, unvorsichtigen Augenblick sieht ihn sein Bruder und folgt ihm in die dunkle Märchenwelt. Dort wird Will von einem Goyl – einem steinernen Krieger – angegriffen und beginnt, nun selbst zu versteinern.

Eine abenteuerliche Suche beginnt, auf der Jacob durch die rapide Verwandlung seines Bruders vorangetrieben wird. Gemeinsam mit der Gestaltwandlerin Fuchs und Wills großer Liebe Clara bestreiten sie den Weg voller Zauber und Gefahren zu den Feen, denn nur durch ihre Hilfe kann Will gerettet werden. Doch es ist ein Rennen gegen die Zeit, denn Will verändert sich zunehmend, wendet sich von der Gruppe ab und wird auch innerlich ‚zu Stein‘. Es stellt sich heraus, dass er zu Jade versteinert und somit ausgerechnet der Jadegoyl ist, der einer Prophezeiung nach den Krieg zwischen Goyl und Menschen beenden könnte. So gerät die Gruppe zunehmend ins Visier der Goyl, und Jacob und Will werden Jäger und Gejagte zugleich.

Mit „Reckless. Steinernes Fleisch“ startet Cornelia Funke eine neue Fantasyreihe, nachdem sie sich aus der „Tintenwelt“ verabschiedet hat. Sie erzählt die spannende Geschichte um die Figuren zweier Brüder, die sich in ihren Eigenschaften deutlich voneinander unterscheiden. Jacob, der seinen Nachnamen „Reckless“ (unbekümmert, verwegen) geradezu verkörpert, ist der furchtlose, ungeduldige und sich aufopfernde Abenteuerheld. Seiner Rolle als großer Bruder wird er dadurch gerecht, dass er die Verantwortung für seinen Bruder übernimmt. Will hingegen ist neugierig und naiv. Nichtsahnend ist er seinem Bruder in die Spiegelwelt gefolgt und muss nun für seinen Fehler büßen.

Cornelia Funke und der Filmproduzent und Drehbuchautor Lionel Wigram – der bei den „Harry Potter“-Filmen beteiligt war und die Storyline zu „Reckless“ mit entwickelt hat – erfinden eine Märchenwelt, in der die Geschichten der Brüder Grimm aufgearbeitet werden. Funke spielt mit den Zutaten der Grimmschen Märchen, die in Vielzahl und Variation immer wiederkehren. „Ein Tischleindeckdich, ein Gläserner Schuh, der Goldene Ball einer Prinzessin“ werden in Funkes Parallelwelt zur Handelsware. Der ursprüngliche Kontext der Märchen wird aufgebrochen und mit neuzeitlichen Elementen verbunden. So befinden sich neben Settings wie Hexenhäusern und „Türmen aus Kristall“ auch Fabriken und Züge in der Spiegelwelt. Zusätzlich werden märchenuntypische Elemente wie Pistolen, Lerchenwasser oder die Loreley sowohl sprachlich als auch inhaltlich ‚vermärchlicht‘.

„Reckless“ ist aber keine Verniedlichung, arbeitet die Autorin doch besonders die grausamen Facetten der Märchenwelt auf. In insgesamt 52 Kapiteln, die ihrerseits einen überschaubaren Umfang haben, wird das Geschehen in wundersamer, furchtbarer und blutiger Weise beschrieben: „Das Zauntor sprang auf, sobald Jacob den Schlüssel in das verrostete Schloss schob. Bestimmt hatten schon viele Kinderhände vergeblich daran gerüttelt.“ Die Rede ist vom Zaun des Lebkuchenhauses der „Kinderfresserin“ – mehr als offensichtlich angelehnt an „Hänsel und Gretel“. Funke gelingt mit ihrer geheimnisvollen und bildreichen Sprache eine Kombination aus Magie und Zauber einerseits und Abenteuer und Gewalt andererseits. Zwischen „Es war einmal“ und „Und wenn sie nicht gestorben sind“, schreitet die Handlung in Perspektivwechseln voran. Sowohl die Sicht der Menschen als auch die der Goyl erhält Einzug in die Geschichte.

Die Aufmachung des Buches schlägt durch den Schutzumschlag eine Brücke zum Inhalt. Der nachempfundene Spiegel in silbrig glänzender Reliefstruktur auf schwarzem Hintergrund und dem Gesicht des Jadegoyls in seiner Mitte vermittelt den finsteren Beigeschmack der Geschichte. Die von Funke selbst beigesteuerten schwarz-weißen Illustrationen stellen eine Verbindung zum Inhalt her und spiegeln die Thematik des Buches wider.

„Reckless. Steinernes Fleisch“ nimmt den Leser mit auf die Reise in eine Fantasywelt, in der die Märchen der Brüder Grimm auf abenteuerliche Weise wiederentdeckt werden können, ohne dabei als bloße Kopie zu erscheinen. Funke gelingt eine faszinierende, fesselnde Konstruktion um den Kampf zwischen Stein und Haut, bei dem nicht nur „Rapunzelhaar“ zum Einsatz kommt, sondern vor allem grausame, gewaltvolle und teilweise blutige Szenen vorherrschen. Nicht ohne Grund wurde das Buch vom Verlag für Jugendliche ab dreizehn Jahren herausgegeben.

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