Ranisch, Axel: Nackt über Berlin
Kleiner Scherz mit großen Folgen: Zwei Schüler nehmen einen Lehrer als Geisel
von Thomas Fischer (2019)
Der Regisseur und Drehbuchautor Axel Ranisch, der mit der Tragikomödie „Ich fühl mich Disco“ (2013) auf sich aufmerksam gemacht hatte, legt seinen ersten Roman vor, der eine sehr ähnliche Thematik hat wie der Film: Zwei siebzehnjährige Berliner Schüler entdecken ihren Schuldirektor in volltrunkenem Zustand auf der Straße. Selbst auch in Schnapslaune, sperren sie ihn in seiner Wohnung ein. Aus diesem scheinbar harmlosen Scherz entwickelt sich ein psychologisches Drama, das alle drei Hauptpersonen an ihre Grenzen führt.
Die beiden übermütigen Jungs haben jeweils schwere Probleme zu bewältigen: Jannik ist dick und unsportlich und leidet nicht nur unter dem Spott seiner Mitschüler*innen, sondern auch unter seinem abweisenden Vater, der die musikalische Begabung seines „missratenen“ Sohnes nicht zu würdigen weiß. Der gleichaltrige Tai, ein hübscher, geheimnisvoller Vietnamese, ist Janniks heimlicher Schwarm. Bei der Geiselnahme ihres Lehrers übernimmt er die technischen Finessen und schafft es tatsächlich, Herrn Lamprecht völlig von der Außenwelt zu isolieren. Doch warum dieser Aufwand? – Nach und nach erfahren wir, dass durch Lamprechts Schuld ein Mädchen in den Selbstmord getrieben wurde. Da Tai in sie verliebt war, sinnt er nun auf Rache und lässt mit Janniks Hilfe eine Folge von geradezu biblischen Plagen auf seinen „Pauker“ einprasseln.
Zunächst streng aus Janniks Sicht erzählt, erfahren wir allmählich in Rückblenden auch etwas über die seelischen Verletzungen, denen Tai und der Lehrer ausgesetzt waren: Der Vietnamese leidet unter seiner Andersartigkeit als „Fidschi“, und Jens Lamprecht hadert mit seinem Schicksal als gefeierter Reformpädagoge, der sich nach dem Tod seiner Schülerin vor dem Scherbenhaufen seines Lebenswerkes und seiner Ehe sieht.
Die als überdrehte Komödie beginnende Handlung erweitert sich bald zu einem überaus geschickt konstruierten, spannenden Drama, das bis zu einem Suizidversuch des Lehrers führt. Die Lektüre macht dennoch einen Riesenspaß, wobei allerdings einige Unwahrscheinlichkeiten in Kauf genommen werden müssen: So wäre es kaum möglich, mitten im Berlin des Jahres 2015 in einem Wohnhochhaus eine Person neun Tage lang perfekt abzuschotten. Auch dass die polizeilichen Ermittlungen schnell im Sande verlaufen und die Jungs unbestraft bleiben, will nicht recht einleuchten. Doch das offene Ende versöhnt mit solchen kleinen Mängeln: Wie Jannik durch diese skurrile Aktion – und mit Unterstützung seines Cousins Jasper – sein Coming Out souverän bewältigt und sich von seinem dominanten und kriminellen Freund Tai zu lösen lernt, ist, zumal es sich um ein Erstlingswerk handelt, bewundernswert erzählt.
Abgesehen von Äußerlichkeiten wie der Umschlaggestaltung, die eher auf einen seichten Unterhaltungsroman schließen lässt, ist der Roman jedoch ein lesenswerter Beitrag zum Thema Homosexualität und Coming Out, der sich würdig in bekannte Beispiele der Gattung wie etwa David Levithans „Two Boys Kissing“ oder Andreas Steinhöfels „Die Mitte der Welt“ einreiht. Im Vergleich etwa mit „Dieses Leben gehört Alan Cole“ von Eric Bell ist der vorliegende Roman wesentlich differenzierter und auch unterhaltsamer.