Frank, Anne: Liebe Kitty
Anne Franks Tagebuch im Wechsel der Perspektiven
von Annegret Völpel (2019)
Mit Anne Franks Tagebuch scheint jede*r vertraut zu sein. Bekanntlich wurde es von einer Jugendlichen, die mit ihrer jüdischen Familie vor den Nationalsozialisten fliehen musste, von 1942 bis 1944 auf Niederländisch geschrieben, und es thematisiert das Leben im Amsterdamer Versteck. Seit seinem ersten Erscheinen 1947 wurde das Tagebuch weltweit in Millionen Exemplaren verbreitet, es wurde bereits Mitte der 1950er Jahre dramatisiert und seither mehrmals verfilmt, zu einem Hörspiel und Tanztheaterstücken umgearbeitet, auch ist es mittlerweile (nach Angaben des Anne Frank-Hauses) in über 70 Sprachen übersetzt. Wenngleich etliche dieser medialen und sprachlichen Bearbeitungen beträchtlich von ihrem Quellentext abweichen, trugen sie doch insgesamt dazu bei, ihn zu einem festen Bestandteil der Populärkultur zu machen. Die Verfasserin und ihr Tagebuch sind so bekannt, dass sie auch zu einem transmedialen Stoff wurden, und heutige jugendliche Leser*innen werden dem Tagebuch ggf. zuerst in Adaptionen wie beispielsweise einer Graphic Novel (2017) oder einer App "Meine Freundin Anne Frank" (2019) begegnen.
Angesichts dieser Popularität ist es angebracht zu fragen, was eine weitere Edition, wie sie gerade im Züricher Secession-Verlag erschienen ist, Neues zu bieten hat. Ausgehend von dieser Frage, kann man sich bei der Lektüre Problematiken der Klassizität bewusstmachen, denn der Tagebuchtext gehört zu den Klassikern der Jugendliteratur. Bekanntlich haben Klassikertexte einen kanonischen Status und werden im Lektürebestand entsprechend gepflegt; darüber hinaus verfestigen sich jedoch auch im Zuge ihrer Rezeption bestimmte Deutungen. Dieser Deutungskanon enthält dann durchaus auch solche Interpretationen, die nur noch wenig vom Ausgangstext abgeleitet sind, sondern diesen eher als Projektionsfläche nutzen. Im Fall von Anne Franks Tagebuch liegt aus meiner Sicht dieser Wirkungszusammenhang von Klassizität eines Textes und unterschiedlichen Deutungsgewohnheiten sehr ausgeprägt vor.
Zu den Rezeptionsgewohnheiten gehört im deutschsprachigen Raum, das Werk als Exilschrift oder als Mädchenliteratur einzuordnen. Letzteres wurde dadurch begünstigt, dass Anne Frank eine weibliche Hauptfigur und die Tagebuchform wählte, was Darstellungskonventionen der Mädchenliteratur entspricht.
Anschlussfähig war der Text offenbar auch für Leser*innen mit vorrangig entwicklungspsychologischem Interesse. Sie lasen den Text als eine übertragbare Darstellung weiblicher adoleszenter Entwicklung unter repressiven Verhältnissen, die den Ablösungsprozess von den Eltern erschwerten und das Schreiben zum Ersatz für außerfamiliäre Beziehungen machten.
Vorrangig wird das Tagebuch jedoch als Zeitzeugendokument eines jugendlichen Opfers der Schoa wahrgenommen. Anne Franks Werk gilt als fester Bestandteil der sogenannten „Holocaustliteratur“, als eine authentische Stimme, die Nachgeborenen die nationalsozialistische Judenverfolgung durch einen individuellen Bericht nachvollziehbar macht. Über diese informative Funktion hinaus wurden der Text und seine medialen Verarbeitungen vor allem für deutsche Leser*innen seit 1950 (dem Jahr der deutschen Erstausgabe) zu einem Identifikationstext für moralische Selbstvergewisserung, wobei man phasenweise den Glauben an das überzeitlich Gute im Menschen zur zentralen Botschaft des Textes deklarierte oder eine nur auf Betroffenheit gerichtete Lektüre pflegte. Erleichtert wurde diese problematische - und zum Teil vorschnell als „Verarbeitung des NS“ gewertete - Wahrnehmung durch die Wahl eines Identifikationstextes, der eine ausführliche Darstellung von Konzentrationslagern und Genozid ausspart, da das Tagebuch zwangsläufig vor der Verhaftung und Ermordung der Untergetauchten endet.
Die bis heute dominierende Einschätzung dieses Tagebuchs als eines authentischen Zeitzeugendokuments mit jugendlicher Perspektive rief eine anhaltende und intensive didaktische Indienstnahme hervor. Bei dem berechtigten Anliegen, sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, Wissen darüber zu vermitteln und Empathie zu fördern, wird Anne Franks Tagebuch für zahlreiche Unterrichtsmodelle und didaktische Materialien als spontan niedergeschriebener, zeitgeschichtlicher Faktenbericht eingesetzt.
In Jahrzehnten der Rezeption entwickelte sich somit die Situation, dass man einen Text aufgrund seiner außerordentlichen Popularität für unterschiedliche Zwecke funktionalisierte, dass man ihn zugleich jedoch eher selten genau las. Demgegenüber mehren sich seit den 1990er Jahren (vorangetrieben durch eine textkritische Werkausgabe und eine deutsche Neuübersetzung von Mirjam Pressler) Versuche der Rekonstruktion von Anne Franks schriftstellerischen Ambitionen. In diese jüngere Strömung ist auch die vorliegende Neuausgabe einzuordnen, und dementsprechend tritt die Literaturwissenschaftlerin und Zeitzeugin Laureen Nussbaum in ihrem Nachwort für eine Anerkennung von Anne Frank als einer jugendlichen Schriftstellerin ein. Tatsächlich wollte Anne Frank Journalistin und Schriftstellerin werden; neben ihrem Tagebuch schrieb sie Erzählungen und berichtete von der Freude beim Entstehen ihrer „Federkinder“. Die Neuerscheinung enthält nun erstmals als eigenständige Veröffentlichung die Rekonstruktion von Anne Franks Entwurf für einen Roman, der auf Grundlage ihrer Tagebücher entstehen sollte.
Zur besseren Einschätzung sollte man sich vergegenwärtigen, dass der scheinbar so allgemein bekannte Text in mehreren Versionen vorliegt. Zunächst schrieb die Jugendliche für sich selbst ein Tagebuch, das unvollständig überliefert wurde (Fassung A). Angeregt durch einen Rundfunkaufruf der niederländischen Exilregierung, nach dem Krieg Zeitzeugenberichte zu veröffentlichen, schärfte sich Anne Franks Blick für die Relevanz ihres Schreibens, und sie plante eine Veröffentlichung. Hierfür überarbeitete sie seit Mai 1944 in den letzten Monaten im Versteck ihre erste Tagebuchversion und schuf eine zweite Textfassung (B), die aufgrund der Verhaftung am 4.8.1944 ein Fragment blieb. Welche Publikationsform die Autorin genau geplant hatte, ist ungewiss. Wahrscheinlich wollte Anne Frank entweder die überarbeitete Version B veröffentlichen oder diese für die Erstellung eines Romans nutzen, der unter dem Titel „Das Hinterhaus“ erscheinen sollte. Nach dem Krieg verlegte man unter dem Titel „Het Achterhuis“ eine dritte Fassung (C, 1947), die Annes Vater aus den beiden früheren Textversionen selektiv zusammengefügt hatte. Fassung C wurde rasch erfolgreich und galt in der Öffentlichkeit lange als „das“ authentische Tagebuch. Erst 1986 wurden die Tagebuchversionen durch eine textkritische niederländische Ausgabe (auch in deutscher und englischer Übersetzung) zugänglich und in ihrer Unterschiedlichkeit transparent gemacht.
Die sorgfältig ausgestattete Neuausgabe von 2019 beinhaltet nun den Text der Tagebuchüberarbeitung von 1944, in neuer deutscher Übersetzung von Waltraud Hüsmet. Die Übersetzerin merkt an, dass sie sich dafür entschied, Merkmale des Originaltextes möglichst zu bewahren. Da sie somit auch auf übliche erläuternde Einschübe verzichtete, wird Leser*innen der Text deutlicher als ein literarischer Entwurf präsentiert.
Folgt man dieser Lesart von Anne Franks Tagebuch als einem literarischen Manuskript, lockern sich die üblichen Erwartungen einer korrekten Abbildung zeitgeschichtlicher Realität und geben Raum für die zusätzliche Wahrnehmung von Anteilen des fiktionalen Erzählens. Zu diesen gehört die Verwendung der Gattung Brieferzählung und die Personalisierung des Tagebuchs zur Freundin Kitty. Die Überarbeitung durch Anne Frank verstärkte deutlich die Autoreflexivität der Erzählstimme, die mehrfach auf den Schreibvorgang und seine besonderen Bedingungen hinweist: Sie berichtet von Papiermangel, fügt eine Ode an den verlorenen Füllfederhalter sowie intertextuelle Hinweise ein, zudem registriert sie kritisch, wie sich die politischen Veränderungen im öffentlichen Sprachgebrauch niederschlagen. Auch wählte Anne Frank einen fiktiven neuen Beginn der Tagebucheinträge und eröffnete die zweite Version mit selbstreflexiven Passagen über das Schreiben. Das Leben im Hinterhaus wurde nun aus einer distanzierteren und bewusster gestalteten Perspektive einer Brieferzählung geschildert. „Es ist eine seltsame Sache, dass ich mich manchmal wie mit den Augen eines anderen Menschen sehe. Ich betrachte die Angelegenheiten einer gewissen Anne Robin dann in aller Ruhe und blättere in meinem eigenen Lebensbuch, als sei es das einer Fremden“. Leser*innen sind mit der Neuausgabe somit eingeladen, ggf. ihre Wahrnehmung von Anne Franks Tagebuch auf seine literarischen Züge hin zu erweitern.