Seibert, Moritz und Oscar Kafsack: Das letzte Aufgebot
Besprechung des Theaterstücks „Das letzte Aufgebot“
von Thomas Fischer (2019)
Erster Akt
Das Junge Theater Bonn (JTB) bietet seit nunmehr 51 Jahren Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, durch Theaterspielen unter professioneller Anleitung die Welt zu entdecken und Selbstvertrauen zu gewinnen. Dadurch hat es sich schon immer von anderen Jugendbühnen unterschieden, die zwar Stücke für Kinder boten, die jedoch fast durchweg von Erwachsenen aufgeführt wurden.
Doch das JTB geht noch einen Schritt weiter und lässt sogar Theaterstücke von den Jugendlichen selbst schreiben. Anfang Juni hatte das zweiaktige Drama „Das letzte Aufgebot“ seine Uraufführung, das vom verdienstvollen Intendanten Moritz Seibert gemeinsam mit drei jungen Schauspielern verfasst wurde.
Grundlage der Handlung sind Ereignisse der letzten Kriegswochen, die sich im Eifeldörfchen Heimbach tatsächlich abgespielt haben. Dort fand eine der letzten und nutzlosesten Schlachten des Zweiten Weltkriegs statt, für die sogar Kinder und Greise, miserabel ausgebildet und nahezu waffenlos, verheizt wurden. Ein kleines Museum erinnert dort heute, nach langem Totschweigen, an diese Tragödie.
Seibert und sein Team lassen vor diesem Hintergrund eine abenteuerliche Freundschafts- und Liebesgeschichte spielen, die entfernt an Anne Franks Tagebuch und Judith Kerrs Rosa Kaninchen erinnert: Der fünfzehnjährige Jakob, großartig gespielt vom Mitautor Oscar Kafsack, ist verliebt in die Nichte des Bürgermeisters (Fabiola Mon de la Fuente), doch gerade als Maria seine Zuneigung zu erwidern beginnt, muss er sich „freiwillig“ zur Verteidigung des Vaterlandes melden. Gemeinsam mit seinen zerlumpten Kameraden, die gleichwohl voller Begeisterung dem vermeintlichen Sieg entgegeneilen, lässt er eine militärische Ausbildung über sich ergehen, die bedrückend realistisch dargestellt wird. Es fehlt weder an beunruhigend synchronem „Heil Hitler“-Gebrüll noch an Kraftausdrücken. Doch nicht nur beim Barras redet man nun einmal so, und wer sagt eigentlich, dass Theater für Jugendliche nicht auch in der Sprache Jugendlicher aufgeführt werden dürfe?
Die Ereignisse spitzen sich zu, als Maria ihrem Geliebten gesteht, dass sie in Wirklichkeit Hanna heißt und Jüdin ist, die sich bei ihrem angeblichen Onkel versteckt hält. Dabei werden sie zu allem Überfluss auch noch von den anderen Hitlerjungen belauscht. Wirkungsvoller Blackout vor der Pause.
Zweiter Akt
Stand zunächst die widerwärtige Indoktrination der Jugend durch die Ideologie des Dritten Reiches im Vordergrund, gestaltet sich der zweite Akt etwas intimer: Der nunmehr fahnenflüchtige Jakob und seine Maria alias Hanna müssen in einer Waldhütte Unterschlupf suchen, um das ersehnte Kriegsende zu erwarten. Als die Amerikaner einmarschieren, trauen die beiden sich ins Dorf zurück, wo sie einen erstaunlich wandlungsfähigen Nazi-Bonzen erleben, der nicht nur in aller Eile HJ-Uniformen verbrennen lässt, sondern auch schon prophylaktisch eine US-Flagge hissen will. Darüber hinaus versucht er, Hanna mit einer an Kabale und Liebe gemahnenden Intrige zu einem Entlastungsschreiben zu erpressen. Sein gegen Ende wiederholt gestammeltes „I sörrender, we ah fränds“ ist symptomatisch für ein Volk, das nicht nur eine militärische Niederlage, sondern auch einen vollständigen moralischen Bankrott erlebt.
Die Besetzung
Seiberts Konzept der gemeinschaftlichen Erarbeitung eines Theaterstücks geht auf: Die Jungen und Mädchen sind mit Feuereifer bei der Sache und können sich hervorragend in die Situation verführter Pimpfe einfühlen, die bei Kriegsende ohne Hoffnung und schwer traumatisiert dastehen. Da fallen gelegentlich undeutliche Artikulation und eine kurz vor Spielbeginn zugezogene Platzwunde gar nicht so sehr ins Gewicht.
Besonders zu betonen ist die schauspielerische Leistung der Hauptfigur: Oscar Kafsacks Darstellung des Jakob ist ebenso professionell ausgereift wie emotional überzeugend. Der sechzehnjährige Tausendsassa steht schon seit vielen Jahren auf der JTB-Bühne, von Justus Jonas in den „Drei Fragezeichen“ über den Atréju bei Michael Ende bis hin zu seiner gegenwärtigen Rolle. Zusätzlich ist er als Musiker und Sportler aktiv. Auch das bewährte Team um Tristan Witzel (bekannt als Bastian aus der Unendlichen Geschichte), und Karl Junker (Klößchen bei TKKG) zeigt sich engagiert als ebenso begeisterter wie erbärmlicher Rest der Heimbacher Hitlerjugend. Von den erwachsenen Darstellern ist Jan Herrmann als überforderter ziviler Bürgermeister hervorzuheben, der sich - natürlich vergeblich - mit der SS anlegt. Eine spezielle Erwähnung verdient auch der zwölfjährige Silas Birkle in einer virtuosen Doppelrolle: Zuerst als jüdischer Junge, der im Wald erschossen wird (der Knall geht dem Publikum durch Mark und Bein), und später als altkluger Waffenexperte seiner Kompanie. Von diesem begabten Kerlchen ist in zukünftigen Produktionen noch viel zu erwarten.
Das Publikum bestand zum großen Teil aus Schulklassen im Alter des damaligen „Volkssturms“. Angesichts des bedrohlichen Wiedererstarkens rechtspopulistischer Tendenzen in unserem Land ist zu wünschen, dass die heutige Jugend diese anschauliche Geschichtslektion versteht, damit sie nicht ebenfalls zu einem „Letzten Aufgebot“ wird!